stollinger,
gute Frage, und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich sie nicht befriedigend beantworten kann. Aber irgendwie habe ich so ein Gefuehl, das im Wesentlichen von folgenden Aspekten ruehrt:
1. Die VKN der einschlaegigen Verkoster. Es ist erstaunlich, wie oft "besser als" oder "mindestens genausogut wie 2014" geschrieben wird; gefuehlt
oefter wird sogar explizit darauf hingewiesen, dass der 2017er nicht soooo weit hinter dem 15er oder 16er ist; aber irgendwie verhuscht, als ob die Kritiker sind selbst nicht ganz trauten.
2. Denn Kritiker sind genauso voreingenommen wie Konsumenten. Viele haben "Frostjahr" und "doofer Sommer" gehoert und den Jahrgang abgeschrieben. Deswegen die eben genannte Zurueckhaltung, wenn eine Wein ziemlich gut ist, weil die Kritiker glauben, ihre Eindruecke gegen eine (ihre oder des Lesers) Erwartungshaltung abwiegen (und abwiegeln) zu muessen, um Glaubwuerdigkeit herzustellen. Nach den Jubelarien von 2015 (dit Allerschürfste!) und dann - Schockschwerenot - 2016 (noch allerschürfigsta, aber total!) koennte eine psychologische Hemmschwelle erreicht sein. Der Kritikermarkt ist ja ziemlich eng, und in letzter Zeit gab's durchaus tektonische Verwerfungen, die einen vorsichtig werden lassen koennten als Weinschreiber.
3. Ich habe es schon oft geschrieben, und mir haben es auch viele Erzeuger bestaetigt: Das qualitative Niveau sowohl der Weinbergs- als auch der Kellerwirtschaft ist auch in High-End-Regionen wie Bordeaux in den letzten 10 Jahren extrem sprunghaft gestiegen. Das ist einerseits dem sehr viel groesseren Wissen geschuldet, andererseits aber auch den beiden Jahren 2009/10, die halt doch sehr, sehr viel Investitionen ermoeglicht haben. Und 2015/16 haben nochmal deutlich geholfen.
4. Es gibt ja auch im Bordelais die Bewegung "hin zu Finesse", also im Wesentlichen "weg von Parker"; das ist die unausweichliche Konsequenz aus dem Ende der
pax robertis - nachdem der Todesstern explodiert ist und der Imperator tot, bricht sich die neue Republik Bahn. Alles ist erlaubt, jeder hat Recht und keiner die Wahrheit gepachtet. Es gibt ja sogar Leute, die
natural orange wine gut finden - oder doch zumindest Gleichgesichte in den Resonanzraeumen der sozialen Medien. Wie bei William Goldings
Lord of the Flies zerblaettert alles in relativierendem Tribalismus, eine Sau nach der anderen wird durch ein Dorf nach dem anderen getrieben, aber bitteschoen mit der richtigen Gesichtsbemalung, sonst gehoerst du nicht dazu! (Deswegen ja auch die Kritikerschwemme, und deswegen wiederum Troplong-Mondot mit allem zwischen "BÄM!" und "ganz ok".) Und die
roaring twenties haben noch nicht mal angefangen.
4. Mein wichtigster Referenzpunkt ist aber der Jahrgang 2014. Ich persoenlich habe den Jahrgang erst zur Arrivage gekauft, nach Verkostung der Weine. Zwar habe ich viele Weine nicht gekauft, aber andere haben, und die Preise sind schon nicht schlecht gestiegen. Gleichzeitig gibt es immer mehr Verkostungen, bei denen die 2014er verdammt gut abschneiden, und zwar immer mit dem Hinweis auf einen "klassischen" Jahrgang. Es reicht ja, auf cellartracker zu kucken und Quervergleiche mit 2001er und 2004ern, die ich jung nicht im Top-Segment kenne, anzustellen, und man kann 2014 schon unter "Schatz, wir brauchen doch noch etwas Wein" eingruppieren. Wie gesagt, sehr selektiv zwar, aber so ist das halt mit den Geschmaeckern.
5. Falten wir das mit dem allgemeinen Distinktionsmerkmal, bevorzugt Weine mit sehr frischem Profil zu trinken (Burgund! Champagne extra brut! Roter Riesling!), so passt sich Bordeaux an und 2017 - als qualitativ hoechstwertiger Vertreter seit 2001? 1996? - genau ins Beuteschema der Millennials. Das heisst, wenn die erstmal auf den Geschmack gekommen sind, momentan trinken sie ja prozyklisch
anything but Bordeaux und posten liebe selfies mit Jura oder Muscadet oder <hier ein obskurer kroatischer Silvanerklon>. Bordeaux ist die Alma Mater, zu der man zurueckkehrt, wenn man der Super-Zweigelts ueberdruessig geworden ist.
6. Wenn nun also 2017 besser ist als 2014, und wenn die Erwartungshaltung nun auf die Bewertungen drueckt, und wenn - wie Matthias Hilse eben schrub - die Erzeuger den allerbesten Ueberblick ueber die relative Rangfolge haben (und fairerweise auch das groesste finanzielle Interesse daran, diese Rangfolge bloss nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen), und wenn ich mir die bisherige Preisgestaltung anschaue (Wiederbeschaffungswerte 2014 modulo Wechselkurse zu den ueblichen Exportmaerkten), ich also das Hilsesche Blogpost mit "Ja, nicht mehr der Kritiker erkennt, sondern der Erzeuger garantiert die Qualitaet!" beantworte - dann, glaube ich, werden wir zur Arrivage eine Ueberraschung erleben. Und dass die Preise
deutlich Luft nach oben haben, hat ja sogar die teilweise beeindruckende Preisentwicklung einiger 2015er und 16er gezeigt. Dazu kommt: Die 2017er Kampagne geht ja so schleppend, das hatte niemand fuer moeglich gehalten, wie schleppend eine Kampagne laufen kann. Es gibt ja gefuehlt mehr Beitraege zur Schlappheit der Kampagne als zu Weinen. Der Knoten wird zur Arrivage platzen:
FOMO.
Wie eingangs gesagt, ist das alles nicht sehr konkret und ziemlich "g'fuehlig", und vielleicht habe ich ja unrecht. Waere nicht das erste Mal.
Cheers,
Ollie