Guten Abend,
eine sehr lange, strategiereiche, nervenaufreibende und immer wieder überraschende Kampagne geduldet sich ihrem Ende entgegen. Manchmal ist es mir vorgekommen, als würde ich einem Hasen im Feld nachschauen, wie er seine Haken schlägt. Da dachte ich, ich hätte etwas verstanden, und schon bemerkte ich, auf der falschen Fährte gewesen zu sein. Und so wie jedes Ding mindestens zwei Seiten hat, kann man die empirischen Erkenntnisse, die sich in den letzten Wochen gewinnen ließen, eben so - aber auch os deuten
Unbeschadet aller unterschiedlichen Wahrnehmungen ist zu beobachten, dass die Bordelaiser Hyperwinzer die Begeisterung der italienischen Futuristen ins nächste Jahrhundert gerettet haben: TEMPO ist das Wort.
Kaum wurde ein Preis bekanntgegeben, schon wurde damit gedroht, dass die mühsam erarbeiteten Allokationen weiterwandern würden zu dem, der nicht so lange zaudert. Was würde man denken, wenn man in einer michelinfähigen Karthause nach seiner à la carte Wahl gefragt würde, ohne auch nur eine Chance zu haben, sich ein Bild über die Auswahl zu machen.
Es dürfte lehrreich sein, in die prä-Lehman-Ära zurückzuschauen: ein Château machte ein Angebot, und es gab ein paar Négociants, die einkauften und danach diese Weine anboten. Nach Lehman gab es das nicht mehr. Man wird seitdem von multipler Seite mit immer den gleichen Angeboten konfrontiert. Der Unterschied lag in der Position. Wenn ich eine Position eingehe, kann dies möglicherweise, je nach Menge, ein anderer schon nicht mehr tun. Ich habe eine andere aktive Gestaltungskraft als in einer Situation, in der ich passiv auf die Entscheidung eines anderen warte.
Offensichtlich haben die Châteauxverantwortlichen keine Tomaten auf den Augen. Das inflationäre Wesen arbitrageinduzierten Handelns beschreibt im Kern nichts anderes als einen Mangel: Ineffizienz. Diese Ineffizienz dürfte mit geographischer Nachfragemigration zu tun haben. Nun kommen Zins, Opportunität und Zeit ins Spiel. Schließlich wird etwas gehandelt, was zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses noch nicht einmal distinkt (!) ist. Wenn also eine Kiste Bordeaux von Kontinent A nach Kontinent B wandert (eventuell über den Umweg von Kontinent C) und B erst kauft, wenn die Kiste lieferbar ist, dann muss Zeit überbrückt werden. Selbst der Volksmund weiß, dass Zeit Geld ist. Im Grunde ist der Begriff Arbitrage nicht ganz richtig, denn der Arbitrageur muss sich hier ja Zeit erkaufen.
Das Château, von dem die Beispielkiste stammt, und das, siehe oben, in Person des CEO tomatenfreie Sicht hat, möchte vielleicht nicht, dass der Wein eine beschwerliche etappenreiche Reise unternimmt, z.B. (und nur eines tautologisch exemplarisch) um das Piratenrisiko (Fälschung) einzudämmen, oder ganz banal, um leichter eine lückenlose Provenienz ausweisen zu können (wir reden von Luxusartikeln). Es ist aber veileicht auch einfach in der liquiditätsmolligen Lage, sich selbst quasi günstiger zu finanzieren als es der Arbitrageur vermag. Das Château möchte also von den lästigen Verpflichtungen, die ihm das Allokationsprinzip aufbürden, befreit sein. Da hilft nur Druck. Wenn abundante Liquidität Druckfreiheit induziert, dann ist nach Lehman besonders der Verlust dieser Form von Freiheit zu beklagen. Anders die Châteaux. Nach einem äußerst erfolgreichen Jahrzehnt sind die Kassen voll. Volle Kassen sind Zeitgewinnmaschinen.
Den Rest kann man sich jetzt denken.
Eine natürliche und nun in der Tat zu beobachtende Tendenz ist die Margenaufgabe, um dem Zeitverlust zu begegnen (Zeit = Geld).
Warum die Châteaux diese ganze Kampagne so inszeniert haben, wie sie in ihrer eigenwilligen Dramaturgie nun zu beobachten ist, zeigt ein Blick auf Lafite. Aristotelisch gesprochen ist Lafite der unbewegte Beweger. Der Preis schafft Unruhe, denn er ist ineffizient. Man könnte auch sagen: zwischen dem Ausgabepreis und der Markterwartung ist ein deutliches atmosphärisches Gefälle. Womit unter ceteris paribus Bedingungen das Gepräge der nächsten Kampagne vorgezeichnet ist.
Eine gute Nacht wünscht
Matthias Hilse