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Re: Alkoholgehalt und sein Entstehen
Verfasst: Di 21. Feb 2012, 15:41
von octopussy
Gerald hat geschrieben:
Ich denke, die hohen Alkoholgehalte werden bewusst vom Winzer angestrebt, da sie - wie ja Ulli schon beschrieben hat - in der Massenverkostung einfach ein, zwei Punkte mehr und damit bessere Verkäufe ergeben ...
Teilweise wird vielleicht auch eine hohe Reife angestrebt und der hohe Alkohol in Kauf genommen. Zum Thema der Korrelation zwischen Klimaerwärmung und steigenden Alkoholgradationen gibt es eine Studie (
http://www.wine-economics.org/workingpa ... E_WP82.pdf), in der herausgefunden wurde, dass die steigenden Alkoholgehalte an zahlreichen Faktoren liegen, von denen die Klimaerwärmung ein Faktor ist, aber - laut der Studie - nicht der dominante.
Kann mir jemand erklären, warum so viel Wert auf die "physiologische Reife" der Trauben gelegt wird? Ist es bei allen Traubensorten erstrebenswert, eine "physiologische Reife" zu erzielen?
Re: Alkoholgehalt und sein Entstehen
Verfasst: Di 21. Feb 2012, 15:48
von weinfex
Hallo Gerald,
es geht doch aber überhaupt nicht um "kälteste Monate"
oder "wärmste Monate"...
Das Winzer den maximalen Alkoholwert anstreben kann ich
natürlich nicht ausschliessen. Wenn ich mir aber die Weingüter
anschaue, die ich in ihrer Arbeit für richtungsweisend halte (Bordeaux),
hat man nicht "erst gestern" erkannt, dass dies für die
Zukunft sogar kontraproduktiv sein wird (z.B. erntet man in Bordeaux
teilweise kerngesunden Merlot vor der physiologischen Reife, warum wohl?)...
Weinbau hat doch in den traditionellen Anbaugebieten nicht mehr das "Hauptproblem"
der Reife, Ulli hatte es ja schon geschrieben, sondern die Herausforderung der
nächsten Zukunft dürften vielmehr Balance und Typizität sein...
Re: Alkoholgehalt und sein Entstehen
Verfasst: Di 21. Feb 2012, 17:33
von Gerald
Hallo Andreas,
nur ein paar Zahlen (mit Österreichbezug):
Langenlois hat laut offiziellen Wetterdaten (1971-2000) ein Jahresmittel von 9,1 °C, Neusiedl am See hingegen 10,1 °C. Dabei ist Langenlois noch deutlich wärmer als z.B. Lagen in Spitz/Wachau.
Demgegenüber liest man "Zwischen 1906 und 2005 hat sich die durchschnittliche Lufttemperatur in Bodennähe um 0,74 °C (± 0,18 °C) erhöht." (wikipedia).
So gesehen ist es einfach nicht nachvollziehbar, dass die hohen Alkoholgehalte einzig oder überwiegend dem Klimawandel geschuldet sind. Wahrscheinlich ist er auch zu einem kleineren Teil dafür verantwortlich, der Hauptanteil muss aber woanders liegen. Ich nehme an, dass mehrere Faktoren der Weinbergsarbeit dafür verantwortlich sind.
Grüße,
Gerald
Re: Alkoholgehalt und sein Entstehen
Verfasst: Di 21. Feb 2012, 17:56
von weinfidél
Gerald hat geschrieben:... Ich nehme an, dass mehrere Faktoren der Weinbergsarbeit dafür verantwortlich sind.
Einer, der mit mir befreundeten Winzer, sieht das genau so
Andreas, deine Aussagen...:
... Wenn ich nur die letzten 5 Jahrgänge
nehme, hat sich der Ertrag nicht nennenswert verändert,
der Alkoholgehalt ist aber geradezu explodiert. ...
und:
Wenn ich mir aber die Weingüter
anschaue, die ich in ihrer Arbeit für richtungsweisend halte (Bordeaux),
hat man nicht "erst gestern" erkannt, dass dies für die
Zukunft sogar kontraproduktiv sein wird (z.B. erntet man in Bordeaux
teilweise kerngesunden Merlot vor der physiologischen Reife, warum wohl?)...
...scheinen sich ein bisschen zu widersprechen
Aber sehrwahrscheinlich meinst Du einfach ein paar wenige Weingüter.
Des Weiteren ist es ebenfalls nichts Neues, was das Thema...:
Herausforderung der nächsten Zukunft dürften vielmehr Balance und Typizität sein...
betrifft. Diese Ziele wurden von den Spitzenbetrieben immer schon angestrebt.
Und gleich noch was:
Weißt Du/Ihr, wie "gesundes", aber nicht "reifes" (physiologisch) Traubengut schmeckt? Spätestens der direkte Vergleich (Essen/Schmecken) mit ausgereiften Beeren macht deutlich, warum man eben die physiologische Reife will.
fidélst
Rico
Re: Alkoholgehalt und sein Entstehen
Verfasst: Di 21. Feb 2012, 18:08
von weinfex
Hallo Gerald,
ohne Frage ist es nicht der einzige Grund. Darüber herrscht
Konsens. Was die Wetterdaten angeht, zweifele ich die Richtigkeit der Zahlen
einfach mal an...

, bzw. müsste man um wirkliche Rückschlüsse
ziehen zu können, detailliertere Zahlen über die Veränderungen haben, Mittelwerte
können gering aussehen, können aber durchaus gegenteilige Auswirkungen haben...
Nur so als Gedankenansatz, selbst wenn es nur geringe Temperaturveränderungen im Frühjahr
und Herbst gäbe, hat es u.U. relativ weitreichende Folgen für den Weinbau...
Re: Alkoholgehalt und sein Entstehen
Verfasst: Di 21. Feb 2012, 18:38
von weinfex
Hallo Rico,
was wie ein Widerspruch aussieht, ist in Wirklichkeit nur
einmal die "breite Masse" und einmal die "Weingüter die
sich des Problems bewusst sind und gegensteuern (versuchen)".
Natürlich war Balance und Typizität schon immer "Erstrebenswert",
nur sehe ich die "Aufgabenstellung" verändert. Hat man "früher"
"von unten" gearbeitet (sprich versucht die Trauben zu maximaler Reife
zu führen), kann man heute oftmals "von oben" arbeiten (die Trauben werden
fast jedes Jahr "reif", ich muss eher nach "unten dosieren" um Balance
zu bekommen).
Die Aussagen sind alle pauschal, schon klar, stimmen bestimmt auch
nicht immer und überall, mir geht es einfach lediglich zu umreissen,
dass sich die "Aufgabenstellung des Winzers" meines Erachtens
in einem kollosalen Wandel befinden, und bin mir ebenso sicher, dass
das noch nicht wirklich alle auch realisiert haben...
Was die physiologische Reife angeht, ist das für mich ein Begriff wie Burn-out,
ein überstrapazierter Begriff unserer Zeit. Vor 10-15 Jahren dürfte die
physiologische Reife nur in Ausnahmejahren erreicht worden sein, also vielleicht
maximal 2-3 mal im Jahrzehnt. Waren die anderen Jahrgänge deshalb alle untrinkbar?
Natürlich schmecken die Trauben besser wenn sie reif sind, dass heisst aber im
Umkehrschluss nicht, dass nicht ganz ausgereifte Trauben keinen grossartigen
Wein ergeben können. Da gibt es vor allem im Burgund und Piemont Beispiele, die
auch in Deinem Keller liegen (dürften)...
Re: Alkoholgehalt und sein Entstehen
Verfasst: Di 21. Feb 2012, 18:45
von BuschWein
Wenn man es mal etwas provokativ auf den Punkt bringen will, dann dürfte das stimmen:
Die Klimaerwärmung war DIE Ausrede für viele Winzer um zu kaschieren, dass sie selbst hauptverantwortlich sind für die deutliche Steigerung der Alkoholwerte!
Übrigens auch ein Grund warum man heute unbedingt physiologisch reife Trauben anstrebt ist, weil dann die Weine einfach früher trinkbar sind und das Gros der Kunden halt nicht mehr bereit ist erst mal Jahrzehnte zu warten bis die Weine getrunken werden können.
Ich bin 100% sicher, dass der Hauptgrund für die Steigerung der Alkoholwerte in der Arbeit des Winzers begründet ist und nicht in der Klimaerwärmung, diese mag verantwortlich sein, dass heute extrem schwache Ernten in den nördlichen Anbaugebieten nicht mehr so oft vorkommen, mit den Alkoholwerten im Durchschnitt hat das nichts zu tun.
Re: Alkoholgehalt und sein Entstehen
Verfasst: Di 21. Feb 2012, 18:53
von BuschWein
Wir haben zuletzt einen Winzer aus dem Languedoc kennengelernt, der dort Weine erzeugt, die sowohl bei rot als auch bei weiß um die 11,0 Vol% Alk. liegen, übrigens alle Weine aus physiologisch reifen Trauben. Wenn das im Süden Frankreichs geht, sollte das in Deutschland ohne Probleme gehen, ebenso in Bordeaux.
Die Weine schmecken auch nicht sauer oder unreif.
Aber eines tun sie schon, sie sind eher dünn, oder schöner geschrieben leicht.
In eine Blindverkostung brauchst Du die Weine nicht mitnehmen, die gehen dort ganz sicher unter.
Das sind ganz sicher keine großen Weine, es fehlt an Komplexität und es fehlt an Kraft, aber im Sommer und gekühlt dürften die sehr viel Spaß machen. Aber ist Spaß ein ernsthaftes Kriterium der Weinkritik? Eher nicht.
Übrigens der gleiche Winzer macht auf den selben Lagen und mit den selben Reben auch richtig wuchtige Weine mit über 13 Vol% Alk. Man sieht was machbar ist. Gleiche Lage, gleiche Rebe, gleicher Jahrgang aber total unterschiedliche Charakteristik des Weins, allein durch die Arbeit des Winzers.
Re: Alkoholgehalt und sein Entstehen
Verfasst: Di 21. Feb 2012, 19:22
von UlliB
BuschWein hat geschrieben:
Ich bin 100% sicher, dass der Hauptgrund für die Steigerung der Alkoholwerte in der Arbeit des Winzers begründet ist und nicht in der Klimaerwärmung, diese mag verantwortlich sein, dass heute extrem schwache Ernten in den nördlichen Anbaugebieten nicht mehr so oft vorkommen, mit den Alkoholwerten im Durchschnitt hat das nichts zu tun.
Na ja, ich kann mich noch ganz gut an Jahre wie 1977, 1978, 1980, 1981 und 1984 erinnern - in einigen dieser Jahre habe ich an der Mosel bei der Lese mitgearbeitet. Nach einem grauen und kalten Sommer und einem ebensolchen Herbst ging da bezüglich Zuckerreife so gut wie gar nichts; Mostgewichte über 80°Oe (16° KMW) waren da absoluten Spitzenlagen vorbehalten und selbst dort nur schwer zu erzielen. Und wohlgemerkt: die Winzer wollten damals - völlig im Prädikatssystem befangen - sehr wohl möglichst hohe Mostgewichte erreichen; sie wollten das möglicherweise noch mehr, als es heute der Fall ist. Aber es ging einfach nicht. Und insofern sehe ich auf diesen Zeitrahmen ausgedehnt den Klimawandel in Deutschland sehr wohl als einen wichtigen Faktor bei der Erhöhung der Alkoholgehalte an; dermaßen klimatisch ungünstige Jahrgänge gibt es in den letzten gut 20 Jahren einfach nicht mehr.
Dass spätestens seit 1990 andere Faktoren in den Vordergrund gerückt sind, bezweifele ich aber nicht. Die hohen Alkoholgehalte sind heute gewollt und gezielt erzeugt. Ein Aspekt, der in diesem Zusamenhang hier noch keine Erwähnung gefunden hat: man kann die Trauben heute deutlich länger hängen lassen als früher, und man lässt sie auch deutlich länger hängen. Ein kleiner Teil ist wiederum dem Klimawandel geschildet, den Rest haben Änderungen in der Vitikultur bewirkt (Entblättern der Traubenzone, Ausdünnung und generell bessere Durchlüftung des Weinbergs), und nicht zuletzt: die liebe Chemie. Ohne moderne, systemisch wirkende Fungizide wären etliche der hier immer wieder hoch gelobten Weine gar nicht machbar gewesen.
Gruß
Ulli
Re: Alkoholgehalt und sein Entstehen
Verfasst: Di 21. Feb 2012, 19:31
von Allegro
Hochinteressant, eure Beiträge

Danke.