Bordeaux 2018

Medoc und seine Appellationen, Bourg und Umgebung, Fronsac, Pomerol, Saint Emilion und Umgebung, Entre Deux Mers, Graves und Pessac-Leognan, Sauternes und Co.
stollinger
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Re: Bordeaux 2018

Beitrag von stollinger »

UlliB hat geschrieben:
stollinger hat geschrieben: Ich finde alle Bewerter bis jetzt extrem generisch. Dafür hätte man keine Verkostung gebraucht. Mir ist nicht ein Wein aufgefallen, der unerwartet (hoch oder niedrig), in Bezug auf die letzten Jahre und die Klassifikation, bewertet wird.
Das ist in den letzten Jahren mit sehr, sehr wenigen Ausnahmen aber auch schon so gewesen. Wer seit Jahren beständig gute Weine macht, wird das auch 2018 getan haben; die Top-Erzeuger lassen da mittlerweile nichts mehr anbrennen. Und unerwartete Aufsteiger gibt es zwar hin und wieder mal, aber eben nicht jedes Jahr.

Wenn man erst einmal weiß, welcher Hausstil einem liegt und welcher nicht, kann man deshalb auf die Bewertungen der Profis verzichten. Da ist eigentlich nur die Beschreibung der generellen Jahrgangscharakteristik interessant - wenn die denn überhaupt adressiert wird, und die Weine nicht mit den immer gleichen Floskeln beschrieben werden und am Ende eine nackte Punktzahl dasteht, die wegen galoppierender Inflation eh nicht mehr viel bedeutet.

Gruß
Ulli
Hallo Ulli,

Kreuzpost. Ja, darauf läuft es hinaus.

Ich warte mal die Bewertungen der RVF im Sommer 2020 ab. Damit bin ich immer ganz gut gefahren. Bei Carmes Haut Brion, Montrose, etc., die bis dahin weg sind, muss ich halt sehen, ob ich das Risiko eingehe. Wenn man überhaupt die Möglichkeit zur Subskription bekommt.

Grüße, Josef
Ollie
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Re: Bordeaux 2018

Beitrag von Ollie »

stollinger hat geschrieben:Für mich kann ich nur sagen, dass die Quantifizierung von Jeff Leve intuitiv alles andere als Normalverteilt auf mich wirkt.
Das ist auch richtig so, denn Weinqualitaet ist nicht normalverteilt, sondern kann sehr gut durch ein Potenzgesetz mit negativem Exponenten angenaehert werden. (Eventuell ist die Verteilung log-normal, aber ich glaube nicht, dass die Datenqualitaet ausreicht, um die Unterschiede zu quantifizieren. Ich arbeite noch daran.8-))

Weinqualitaet ist schwer zu definieren, aber legen wir die Anahme zugrunde, dass die Verteilung der Weinbewertungen (Punkte durch Verkoster) die tatsaechliche Weinqualitaet repliziert. Die Wahrscheinlichkeitsfunktion fuer die Weinbewertung in Punkten x ist also (angenaehert) von der Form Phi(x) = x^alpha, mit alpha < 0 und abhaengig von Weinregion und -sorte. (Beispiel: Weissweine sind in Deutschland haeufiger gut als Rotweine, und es ist schwieriger, einen guten Rotwein zu machen als einen guten Weissein. Ergo is alpha(rot) groesser (der Exponent negativer) als alpha (weiss), d.h. logarithmisch aufgetragen eine abfallende Gerade ueber den Punkten.

Uebrigens sieht man daran, dass Punktewerte einer logarithmischen Skala folgen. :P Was mich ueberhaupt nicht ueberrascht, das tun Sinneseindruecke oberhalb der Wahrnehmungsschwelle und unterhalb der Saturation fast immer. Zumindest soweit mir bekannt. Und so erklaert sich ganz zwanglos die "Drei-Punkte-Regel", wonach ein Wein erst dann deutlich "besser" als ein anderer Wein ist, wenn er drei Punkte mehr hat als jener. Niemand kann zuverlaessig genug 89 von 90 Punkten unterscheiden (allenfalls ist extrem engen Teilmengen an Testweinen), sogar 89-91 ist noch heikel; erst bei 92 Punkten wird die Rangfolge statistisch signifikant.

Weinbewertung ist ein schmutziges Geschaeft, das gegen statistische Realitaeten betrieben wird. Deshalb ist, wie Ulli schon schrieb, nicht der Punktewert, sondern die Verkostungsnotiz im Kontext des Jahrgangs das einzig hilfreiche Werkzeug fuer den Konsumenten, der aber leider selbst wissen muss, wie er die Notiz liest und was er selber an Wein mag. Deswegen kann ich auch 2018 getrost das subsen, was ich schon immer subse - jedenfalls solange die Erzeuger den Wein nicht verhauen haben i.S.v. Ueberreife usw.

Und die Erzeuger scheinen das zu wissen: Der Preis von GPL z.B. wird so gewaehlt werden, dass der Wein innerhalb seiner Ahnenlinie plausibel bleibt. Bei aller Liebe fuer das Weingut, so ist GPL ein sehr, ehm, solider Wein, gut fuer 95 Punkte, aber weit weg von der Bordelaiser Stratosphaere, in die etwa die Superseconds vordringen. Der Wein will auch gar nicht mehr sein, also wird der Preis auch 2018 wohl bei 85(-5+3) Euro liegen (es gibt ja Menge), um noch etwas Fantasie zum momentanen Wiederbeschaffungswert des 2010ers und des 2016ers zu haben.

Weingueter, die gerade einen Uebergang haben, die Ahnenlinie also keine gute Indikation erlaubt, ist die Volatilitaet hoeher. Calon-Ségur und Les Carmes HB scheinen noch Luft zu haben (erste Tranche aber garantiert noch zweistellig IMO, und sei es nur, um mit 99 Euro den Schein zu wahren), wohingegen Canon wohl langsam saturiert und (zumindest 2018) etwas gegen Belair-Monange verliert: Die Qualitaetsdifferenz zu den Vorjahren ist fuer grosse Preisaufschlaege nicht gross genug, wohingegen B-M offenbar nochmal zugelegt hat. Problematisch ist hier der hohe Wiederbschaffungswert etwa des 2016ers, aber B-M drueckt den Preis auf unter 150 Euro fuer den 2018er. Wenn Canon anfaengt zu spinnen, liegt die erste Tranche bei deutlich dreistellig, also 110-130 Euro, und dann beginnt das grosse Rennen. (Welches sowieso beginnt, die Frage ist, zu welchem Preis man den Zuschlag bekommt, genauso wie bei Calon und Carmes.) Klar ist Belair-Monange ohne Glam und Soul, aber am Ende der Lohnfortzahlung im Subskriptionsfall draeuen ja Figeac et al.

Noch ein Wort zu Dame de Montrose. Meyney. Kein Mensch braucht teure Zweitweine. Ist ja schoen, wenn der Wein auf manche Verkoster wirkt wie ein 1989er Montrose (srsly?!), aber wieviel Meyney bekomme ich fuer das Geld? Und wenn's eh nur ums Punktetrinken geht: Castillon, Fronsac. Was da Jeff Leve an Punkten raushaut, macht das ganze fuer mich, na, vielleicht nicht unserioes, aber laesst darauf schliessen, dass er (so wie James Molesworth vom Wine Spectator) Wert auf Aspekte legt, die mir nicht ganz so wichtig sind. Plueschige, schillernde Frucht ist ja ganz sexy, aber Laenge und Komplexitaet ist mir ein hoeheres Gut. Man darf nicht glauben, man bekaeme dort echte 94 Punkte ins Glas - fuer paarundzwanzig Euro. So funktioniert Bordeaux einfach nicht.

So, Mittagspause rum. Weitermachen. :mrgreen:

Cheers,
Ollie
Yeah, well, you know, that’s just like, uh, your opinion, man.

Parfois, quand c'est trop minéral, on s'emmerde.

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TOM
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Re: Bordeaux 2018

Beitrag von TOM »

stollinger hat geschrieben:… alles andere als Normalverteilt ... in der Vergangenheit nicht besonders normalverteilt
Ich glaube nicht, dass die Punkte überhaupt Normalverteilt sein können. Wenn Du einen Jahrgang alleine bewerten könntest, ohne Rücksicht auf andere Jahrgänge und Bewertungen und jedesmal die volle Skala nutzen, dann wäre das vielleicht so. Da man aber gute Jahrgänge und schlechte Jahrgänge hat und den einzelnen Wein im einzelnen Jahrgang auch untereinander über Punkte vergleichbar machen will und da man die 100-Pukte-Skala hat bei der bei 100 nun mal Schluss ist, kann das (in meinen Augen!) keine Normalverteilung werden.

stollinger hat geschrieben: Abgesehen davon, finde ich Informationen (gerade auch von dir) über die Assemblage, den Alkoholgehalt, die Fermentation, den Ausbau, die Struktur, die Tanninqualtät, die Säure, die Extraktion, etc. sehr interessant, hilfreich und bin dankbar dafür!
Grüße, Josef
Und genau da stimme ich dir 100% zu! Auch von mir ein Danke an Adrian.

Und selbst bei einem Weinhändler wie Lobenberg finde ich die (textlichen!) Bewertungen sehr nützlich und hilfreich. Wir alle wissen, dass neben den neutralen Verkostungselementen dort auch die Lieblingswinzer als Parameter mit in die Bewertung eingehen. Und trotzdem! Seine textlichen Kommentare geben einen wertvollen Baustein ab, um sich seine eigene Meinung zu bilden. Die Punkte spielen für mich eine untergeordnete Rolle.
Gleiches gilt für die Bewertungen von Lindauer und (bedingt) die von Leve. Auch sie können dazu beitragen, sich ein Bild zu machen.

Und ehrlich gesagt finde ich die Bordeaux-Welt damit zurzeit viel spannender als zu Parkers-Zeiten, als alle nur auf die Punkte von Parker und Gabriel schauten...
Man muss immer etwas haben, worauf man sich freut. (Eduard Mörike)
stollinger
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Re: Bordeaux 2018

Beitrag von stollinger »

Ollie hat geschrieben:
stollinger hat geschrieben:Für mich kann ich nur sagen, dass die Quantifizierung von Jeff Leve intuitiv alles andere als Normalverteilt auf mich wirkt.
Das ist auch richtig so, denn Weinqualitaet ist nicht normalverteilt, sondern kann sehr gut durch ein Potenzgesetz mit negativem Exponenten angenaehert werden. (Eventuell ist die Verteilung log-normal, aber ich glaube nicht, dass die Datenqualitaet ausreicht, um die Unterschiede zu quantifizieren. Ich arbeite noch daran.8-))

Weinqualitaet ist schwer zu definieren, aber legen wir die Anahme zugrunde, dass die Verteilung der Weinbewertungen (Punkte durch Verkoster) die tatsaechliche Weinqualitaet repliziert. Die Wahrscheinlichkeitsfunktion fuer die Weinbewertung in Punkten x ist also (angenaehert) von der Form Phi(x) = x^alpha, mit alpha < 0 und abhaengig von Weinregion und -sorte. (Beispiel: Weissweine sind in Deutschland haeufiger gut als Rotweine, und es ist schwieriger, einen guten Rotwein zu machen als einen guten Weissein. Ergo is alpha(rot) groesser (der Exponent negativer) als alpha (weiss), d.h. logarithmisch aufgetragen eine abfallende Gerade ueber den Punkten.
Dank dir Ollie,

oh man, das hat mich jetzt echt etwas Zeit gekostet, aber leuchtet ein! Statistik war und ist a) noch nie meine Stärke und b) schon lange her. Aber (und ich glaube besonders), sollten 24 potentielle 100punkter, von ~550 verkosteten Weinen, nicht vernünftig einem Potenzgesetz genügen. Das verunsichert mich nach wie vor und lässt mich an den Punkten zweifeln.

Grüße, Josef

p.s.: bzgl leuchtet ein, so ganz doch nicht. Die häufgste Bewertung sollte ja z.B. ~90 sein. Am meisten geschmackliche Kompromisse sind möglich, um diese Punktzahl zu erreichen. Alles darüber hat überdurchschnittlich viel positive Merkmale, darunter zu viele negative Merkmale.
Potenzgesetz.JPG
So wirklich bekomme ich das nicht in Einklang. Abgesehen davon, dass die x-Achse vernünftig skalierbar sein muss, aber wie verläuft die Kurve für schlechte Punkte. Oder habe ich doch die falsche x-Auftragung?
Und viel wichtiger, ist das Klausurrelevant?
TOM
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Re: Bordeaux 2018

Beitrag von TOM »

Hallo Ihr Mathematiker...
Ihr kennt die Mathematiker-Geschichte mit dem schwarzen Schaf? Musste bei Eurer Diskussion unwillkürlich daran denken:

Ein Biologe, ein Physiker und ein Mathematiker fahren in einem Zug durch Schottland und sehen ein schwarzes Schaf.
Sagt der Biologe begeistert:"In Schottland sind die Schafe schwarz!"
Daraufhin der Physiker: "Aber Herr Kollege, wir können doch nur sagen: In Schottlang gibt es schwarze Schafe!"
Der Mathematiker korrigiert: "Nein, meine Herren, sie liegen beide falsch! Wir können nur sagen: In Schottland gibt es mindestens ein Schaf, dass auf mindestens einer Seite schwarz ist!"


So und nun wende ich mich wieder dem 2018er Bordeaux zu und behaupte, dass es in 2018 mindestens einen Bordeaux geben wird, der mir (unabhängig von jeder Normalverteilung) richtig gut schmecken wird :-)
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amateur des vins
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Re: Bordeaux 2018

Beitrag von amateur des vins »

TOM hat geschrieben:So und nun wende ich mich wieder dem 2018er Bordeaux zu und behaupte, dass es in 2018 mindestens einen Bordeaux geben wird, der mir (unabhängig von jeder Normalverteilung) richtig gut schmecken wird :-)
...aber möglicherweise nur auf einer Seite! :lol:
Besten Gruß, Karsten
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vanvelsen
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Re: Bordeaux 2018

Beitrag von vanvelsen »

TOM hat geschrieben:
stollinger hat geschrieben:… alles andere als Normalverteilt ... in der Vergangenheit nicht besonders normalverteilt
Ich glaube nicht, dass die Punkte überhaupt Normalverteilt sein können. Wenn Du einen Jahrgang alleine bewerten könntest, ohne Rücksicht auf andere Jahrgänge und Bewertungen und jedesmal die volle Skala nutzen, dann wäre das vielleicht so. Da man aber gute Jahrgänge und schlechte Jahrgänge hat und den einzelnen Wein im einzelnen Jahrgang auch untereinander über Punkte vergleichbar machen will und da man die 100-Pukte-Skala hat bei der bei 100 nun mal Schluss ist, kann das (in meinen Augen!) keine Normalverteilung werden.

stollinger hat geschrieben: Abgesehen davon, finde ich Informationen (gerade auch von dir) über die Assemblage, den Alkoholgehalt, die Fermentation, den Ausbau, die Struktur, die Tanninqualtät, die Säure, die Extraktion, etc. sehr interessant, hilfreich und bin dankbar dafür!
Grüße, Josef
Und genau da stimme ich dir 100% zu! Auch von mir ein Danke an Adrian.

Und selbst bei einem Weinhändler wie Lobenberg finde ich die (textlichen!) Bewertungen sehr nützlich und hilfreich. Wir alle wissen, dass neben den neutralen Verkostungselementen dort auch die Lieblingswinzer als Parameter mit in die Bewertung eingehen. Und trotzdem! Seine textlichen Kommentare geben einen wertvollen Baustein ab, um sich seine eigene Meinung zu bilden. Die Punkte spielen für mich eine untergeordnete Rolle.
Gleiches gilt für die Bewertungen von Lindauer und (bedingt) die von Leve. Auch sie können dazu beitragen, sich ein Bild zu machen.

Und ehrlich gesagt finde ich die Bordeaux-Welt damit zurzeit viel spannender als zu Parkers-Zeiten, als alle nur auf die Punkte von Parker und Gabriel schauten...
Ich finde die Diskussion zum Thema sehr interessant und auch die durchaus provokative Aussage oben zu meiner (und Jeff Leve's) Verkostungs-Kompetenz. Natürlich: bei 500-1000 Weinen in 1-2 Wochen wird der eine oder andere Verkoster mal "daneben liegen" - in meinen Augen ist das aber durchaus entschuldbar und ich schliesse nicht aus, dass auch ich den einen oder anderen Wein zu hoch/zu tief bewertet habe. Ich kann an dieser Stelle aber festhalten, dass meine persönlichen Punkte-Bewertungen durchaus replizierbar sind, und zwar mit oder ohne Etikette. Ich habe das x-fach mit meinen Mitverkosterm im Team getestet. So liegen wir bei Weinbewertungen "blind" max. 2 Punkte (auf der 100er-Skala) auseinander - was wiederum die oben genannte These stützt, dass 3 Punkte Unterschied (nach Oben) mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit auch einen "besseren" Wein machen. Dies wiederum heisst nicht, dass man den Wein selber mögen muss. Die Aussagen zur Stilistik sind i.m.A. wichtiger und man findet diese dann im Text/der VKN... Genau darum neme ich mir für diese VKN's auch Zeit - ohne jegliche finanzielle Abhängigkeit wohlverstandenk, denn vvWine ist zu 100% unabhängig.

Ich möchte an dieser Stelle eine Lanze für Jeff Leve brechen. Ich treffe ihn regelmässig an den Proben und wir wechseln ab und an auch mal ein Wort. Seine Bewertungen kann ich grossmehrheitlich gut nachvollziehen (von den oben genannten Ausreissern in jede Richtung einmal abgesehen) und hier von Punkte-Inflation zu sprechen finde ich im 2018er-Kontext etwas gewagt. Es steht für mich ausser Frage, dass Suckling die Skala nicht im Griff hat (oder kann irgend jemand hier im Forum die Suckling-Punkte ernst nehmen??? - mir fällt das zugegebenermassen seht, sehr schwer). Jeff Leve dagegen verkostet i.m.A. sehr gut und er wagt sich auch mal gegen Oben oder Unten einen Akzent zu setzen, was ich sehr schätze. So hat Jeff z.B. Ch. Rauzan-Ségla mit 97-99 bewertet, was mir sehr, sehr hoch erscheint im Kontext meiner vergebenen 94-97 Punkte. Es zeigt aber so oder so auf, dass Rauzan ein Wein ist, der zu den besten Margaux-Weinen im 2018 gehört, egal ob er dann bei 94, 95, 96, 97 oder auch 99 Punkten landen wird ich würde im Durchschnitt mal auf 95.7 tippen).

Fonroque dagegen, bewertet Jeff mit 89 - für mich in keiner Weise nachvollziehbar. Ich durfte den Wein 5x verkosten und stets mit konsistenten 94-95 Punkten. Gut möglich, dass es Jeff hier etwas an Kuschligkeit fehlt, aber hier lege ich meine Hand ins Feuer: Fonroque 2018 ist zusammen mit dem 2016er ein "sleeper of the Vintage" - hier war Jeff wohl etwas "abgelenkt".

Auch ich versuche wo immer möglich den einen oder andere Akzent zu setzen. So wage ich zu behaupten, dass ich einer der ersten Verkoster war, der den heute so stark "gehypten" Carmes Haut-Brion sehr hoch bewertet hat. Als ich für den 2013er schrieb (man lese hier: https://vvwine.ch/2016/01/ch-carmes-hau ... realitaet/), dass Carmes im generell eher schlechten Jahr 2013 zum Besten gehörte, was ich verkostet habe, wollte das noch niemand wirlich glauben. 2013 (bääää), Carmes (rustikal, bäää) - und siehe da... wer heute zurückblickt, dürfte erkannt haben, dass hier so richtig die Post abgeht. Spätestens seit dem 2015er und dem grandiosen 2016er haben es auch die "etablierten Verkoster" erkannt und Carmes plötzlich nicht mehr mit 89-91 sondern mit 95+ bewertet (es hat immerhin 3-4 Jahre gedauert, bis man sich aus dem Schneckenhaus wagte).

Und ja: die Bordeaux-Welt wird spannender, keine Frage. 2018 wird, da bin ich mir sehr sicher, den einen odern anderen Kritiker hier im Forum früher oder später positiv überraschen. Ich freue mich jedenfalls auf die Weine in ca. 10-25 Jahren und schlürfe zwischenzeitlich den einen oder anderen 82er mit Genuss.

Weinfreundliche Grüsse

Adrian
Ollie
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Re: Bordeaux 2018

Beitrag von Ollie »

stollinger,

natuerlich ist das klausurrelevant. Fuer die Schule lernen wir, nicht fuer das Leben! :lol:

Zu den vielen "Hundertern":

Es gibt im ganzen Weinreich nur ganz wenige 100-Punkte Weine, wir reden wir vom Sub-Promillanteil. Wenn man aber einen Auswahleffekt hat (selection bias), sich z.B. bei deutschem Riesling nur auf die Grossen Gewaechse konzentriert (etwa beim Berliner Risling-Cup), hat man naturgemaess eine flachere Verteilung. Und diese Verteilung hat natuerlich einen Scheitelpunkt, weil Weine, die schlechter sind, anteilig i) bei der Pruefung nicht durchgelassen, ii) nicht zur Pruefung eingreicht oder iii) ueberhaupt gar nicht erzeugt werden (den Wein gibt es schon, aber er wird nicht als GG gefuellt, weil sich der Winzer geniert). Solche kuratierten Samples verhalten sich natuerlich schon anders als die grosse Menge. Und ganz, ganz sicher sind die klassifizierten Gewaechse der Bordelais (ohne e, uebrigens - don't drink it if you can't pronounce it) keine repraesentative Teilmenge des Weins, der in diesem Weingebiet erzeugt wird.

Insgesamt stimmt die Relation, allerding gibt es so wenige Ueber-"95er", dass die Anpassung der Funktion (fit) am oberen Rand am Quadratwurzeleffekt leidet: Der Fehlerbalken auf die Haeufigkeit N ist ja in erster Naeherung (Poisson-Statistik) sqrt(N). Wo es wenige Weine gibt (bin depletion ), ist der Fehler entsprechend gross, der Fit schlecht bzw. von den "guten" Datenpunkten dominiert. Dazu gleich noch mehr.

Aufgrund der auf 100 begrenzten Skala gibt es einen Randeffekt, der bei hohen Wertungen immer schlimmer zuschlaegt. Der Durchschnittswert (z.B. Global Wine Score oder Cellartracker) hat es immer schwerer, an die 100 heranzukommen: Es muesste ja alle Verkoster 100 Punkte geben, um den Schnitt auf 100 zu heben, und hier greift die Verteilung der Einzelwertungen, wie ich sie weiter oben mal skizziert hatte. Deswegen zeigen 90.1 oder 90.3 als Mittelwert bei Cellartracker nicht den selben Unterschied an wie etwa 95.1 oder 95.3. Zwischen 97 und 100 Punkten "stauen" sich also alle Weine auf, die eigentlich 102 und 103 Punkte haben sollten, was sich aber der Verkoster nicht vorstellen kann, denn Wein "geht nur anders, aber nicht besser" - eine Aussage, die aus mehreren Gruende die Bankrotterklaerung der wertenden Weinverkostung darstellt. (Frueher nannte man bei Erdbebenmeldungen die Richter-Skala "nach oben offen". Die 100er-Skala ist es nicht.

Drittens kommen ganz oben die Vorlieben der Verkoster voll zum Tragen: Wem schon mal Traenen ueber die Tastatur gelaufen sind, nur weil er einen ganz okayen Rheingauer Riesling im Glas hatte, dem ist nicht zu trauen. :mrgreen: Diese drei Effekt sorgen kombiniert dafuer, dass der obere Rand der Verteilung "ausfasert" und die Funktion nicht mehr gut passt. (Wuerde man einfach nochmal 100 Jahre Bewertungen sammeln, koennte man diese Effekte sogar quantifizieren, aber so lange geht meine Bachelorarbeit nicht. :lol:)

Wenn es also "zu viele" oder "zu wenige" oder "die falschen" 100-Punkte-Weine gibt, dann gehoert das so, denn wir reden hier ja von einem ziemlich fehlerbehafteten System. Wenn ich heute noch Zeit habe, poste ich mal eine Verteilungsfunktion von 80-100 Punkten von stark 60,000 Weinen. Dann wird deutlicher, was ich meine.

Cheers,
Ollie
Yeah, well, you know, that’s just like, uh, your opinion, man.

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Re: Bordeaux 2018

Beitrag von amateur des vins »

Ollie hat geschrieben:Wenn ich heute noch Zeit habe, poste ich mal eine Verteilungsfunktion von 80-100 Punkten von stark 60,000 Weinen. Dann wird deutlicher, was ich meine.
...aber bitte zeitaufgelöst! Dann wird man sehr schön sehen, wie die Welle auf die 100 zuschwappt.
Besten Gruß, Karsten
Ollie
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Re: Bordeaux 2018

Beitrag von Ollie »

Uebrigens, stollinger, schoener Graph! Handgemalt ist halt immer noch am besten! :) Du hast alpha > 0, aber das ist auch ok, und sogar den Vorfaktor, sehr gut! Wenn du relative Haeufigkeiten benutzt, musst du allerdings vorsichtig sein, denn die Potenzfunktion muss natuerlich auf 1 normiert sein (Flaecheninhalt ist Gesamtwahrscheinlichkeit Eins).
amateur des vins hat geschrieben:...aber bitte zeitaufgelöst!
Das mach ich dann in der Master-Arbeit. :roll: :lol:

Cheers,
Ollie
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