Interessant: Spontanvergärung

Von der Weinbergspflege bis zur Kellertechnik
Bernd Schulz
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Re: Interessant: Spontanvergärung

Beitrag von Bernd Schulz »

Bei Becker musst Du Dir die Liste anfordern, Becker ist ganz Mittelalter. Im Paket findest Du dann auch sowas mit Schreibmaschine geschriebenes. Da ist Wein wirklich noch wild romantisch.
Gerald, Becker ist wirklich ein ganz heißer Tipp für dich! Bei diesem Erzeuger findest du authentischen Rheingau-Riesling jenseits aller Zuckergeschwänztheit und Perwoll-Gespültheit - und dies auch noch zu vernünftigen Kursen. Zudem sind die Becker-Weine ein weiteres Paradebeispiel für eine kompromisslose Stilistik, die in dieser Form mit Reinzuchthefen nicht denkbar wäre. Dagegen wirkt vieles andere, was aus dem Rheingau kommt und dann auch noch nicht selten unter der Flagge des Ersten Gewächses segelt, wie Kinderbrause ohne Kohlensäure (bzw. mit eher moderater Kohlensäure :mrgreen: ) !

Beste Grüße

Bernd
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Birte
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Re: Interessant: Spontanvergärung

Beitrag von Birte »

Dagegen wirkt vieles andere, was aus dem Rheingau kommt und dann auch noch nicht selten unter der Flagge des Ersten Gewächses segelt, wie Kinderbrause ohne Kohlensäure (bzw. mit eher moderater Kohlensäure :mrgreen: ) !
:lol: , das unterschreibe ich.
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Markus Vahlefeld
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Re: Interessant: Spontanvergärung

Beitrag von Markus Vahlefeld »

Bernd Schulz hat geschrieben:
Sie wollen "Naturwein" oder "natürlichen Wein" oder "handwerklich ehrlich hergestellten Wein" oder "traditionellen Wein" und verstehen nicht nur nicht, dass es den gar nicht gibt, sondern vor allem, dass, wenn es ihn gäbe, er scheusslich schmecken würde.
Klar, Wein ist immer in gewisser Hinsicht ein *Kunstprodukt*. Aber diese Feststellung rechtfertigt doch nicht jedwede Form der Geschmacksmanipulation, oder? Wenn es eh keinen "Naturwein"oder "natürlichen Wein" oder "handwerklich ehrlich hergestellten Wein" oder "traditionellen Wein" gibt, warum dann nicht gleich künstliche oder "naturidentische" Aromen oder Invertzucker oder was auch immer noch hinzufügen? Immer nur rin mit dem aus Sägespänen gewonnenen Erdbeergeschmack!
Ja, sollen die doch machen! Ich habe damit kein ideologisches Problem, solange es nicht gesundheitsschädlich ist. Du spielst beim Erdbeergeschmack auf die berühmten Joghurts an. Da hatte ich folgendes Erlebnis: mir schmeckte dieser süße Pappkram einfach nicht mehr und ich habe mir mein Joghurt selbst angemischt, mit Marmelade und Zucker. Das Resultat: schmeckte auch nicht (aber ich habe gemerkt, WIEVIEL Zucker und Aroma so ein Joghurt braucht). Ich benutze Joghurt seitdem nur noch für Salatsoße :D
Die Frage ist doch, welches Ausmaß an Manipulationen, an "Styling" nötig und sinnvoll ist. Diese Frage stelle ich nicht nur als "Weinromantiker", ich stelle sie auch im Hinblick auf das, was mich geschmacklich reizt und herausfordert. Weine mit dropsigen Einheitsfruchtaromen schmecken mir auf Dauer nicht, sondern öden mich maßlos an.
Das ist IMHO das entscheidende Argument. Jeder soll nur das trinken, was ihm schmeckt. Und diese eindimensionalen Industriewässerchen sind geschmacklich so abseitig, dass ich vollständig auf sie verzichte. Aber nicht aus Ideologie, sondern rein aus Geschmack. Manchmal habe ich sogar den Eindruck, dass ich mich durch all diese Sponti-Weine saufe, um meiner alltäglichen Geschmacksverrohung, die mit der Inkorporation der "normalen" Nahrung einher geht, etwas dagegen zu setzen. Glücklicherweise kann ich - immer noch oder wieder - blind ein authentisches Produkt von einem Industrieprodukt unterscheiden. Denn dort, wo mein Sinnesapparat einfach wow, lecker, geil schreit, ist meist ein Industrieprodukt gemeint. Authentische Produkte sind schwieriger, langsamer, tiefer. Oder so :oops:

Aber bitte: das soll jetzt nicht zynisch klingen. Wenn jeder essen und trinken (und Musikhören oder was auch immer) soll, so wie es ihm passt, dann bin ich mir bewusst, dass 90% der Mitmenschen einen verrohten Geschmack haben, der sie lieber zu Industrieprodukten greifen lässt. Trotzdem würde ich weder die Industrieprodukte verbieten, noch meine Mitmenschen dafür zu xxxxx stempeln. In deren Augen habe ich vielleicht einen schlechten Urlaubsgeschmack und möchte auch nicht bekehrt werden :lol:
Bernd Schulz
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Re: Interessant: Spontanvergärung

Beitrag von Bernd Schulz »

Trotzdem würde ich weder die Industrieprodukte verbieten, noch meine Mitmenschen dafür zu xxxxx stempeln.
Völlig d´accord! Es redet hier ja auch keiner davon, irgendwelche Industrieweine zu verbieten. Es geht vielmehr um die Frage, ob die Praxis der Spontanvergärung für unser elitäres Clübchen von Weinspinnern sensorische und reifetechnische Vorteile mit sich bringen kann. Von Leuten, die ein handfestes monetäres Interesse daran haben, nämlich von den Herstellern der Zuchthefen bzw. deren wissenschaftlichem Arm, wird immer wieder versucht, die Unterschiede zwischen der Arbeit mit Wild- und Zuchthefen weitestgehend zu bagatellisieren.

Dass ihnen einige hier mehr oder minder stark das Wort reden, scheint mir eher mit einer gewissen Ideologiefurcht als mit den tatsächlichen sensorischen Erfahrungen zusammenzuhängen.

Ich möchte aber nochmals betonen, dass ich reinzuchtvergorene Weine nicht generell ablehne, sondern immer wieder auch für den eigenen Keller erwerbe! Nicht selten auch unter preislichen Aspekten, so zum Beispiel unlängst in der Pfalz.

Überhaupt habe ich einen temporär sehr unterschiedlichen Geschmack - es gibt Tage, an denen ich die (nicht überdeutlich) auf lecker getrimmten Weinderln recht gerne genieße, und es gibt andere, an denen ich am liebsten laut "Bleibt mir weg mit eurem Nivea-Multisaft-Gelumpe!" schreien würde. Zu den absoluten Schwarz-Weiß-Trinkern gehöre ich sicher nicht. Aber mir ist bewußt, dass zwischen der einen und der anderen Seite ein erheblicher Unterschied existiert. Auch in der Wertigkeit.

Beste Grüße

Bernd
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UlliB
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Re: Interessant: Spontanvergärung

Beitrag von UlliB »

Bernd Schulz hat geschrieben: Es geht vielmehr um die Frage, ob die Praxis der Spontanvergärung für unser elitäres Clübchen von Weinspinnern sensorische und reifetechnische Vorteile mit sich bringen kann.
Hallo Bernd,

die Problematik (und auch die Emotionalität) der Diskussion hier ergibt sich daraus, dass sofort im Kategorienpaar "gut / schlecht" oder in den noch heikleren Paaren "natürlich / nicht natürlich" oder "authentisch / nicht authentisch" argumentiert wird.

Was ich als viel verblüffender empfinde, ist die Tatsache, dass etliche Leute (darunter auch Winzer und andere Weinfachleute) die Existenz von sensorisch erkennbaren Unterschieden zwischen Spontanvergärung und Vergärung mit RZH rundweg leugnen. Einige Aussaggen im weiter oben von Gerald verlinkten Pronay-Artikel sind dafür beispielhaft.

Eine ganz wesentliche Ursache sehe ich nach wie vor in der Einordnung von Weinen, die per Voransatz oder Impfung mit einer lagenspezifischen oder betriebseigenen (jedenfalls nicht gekauften) Hefe vergoren werden, als "spontan vergoren" - was sie eben nicht sind. Diese Weine kann ich auch nicht von Weinen unterscheiden, die mit einer "neutralen" RZH vergoren wurden.

Geht man jedoch zu den echten Spontanisten über - und ich beschränke mich hier jetzt einmal ganz klar auf Riesling - ist der Effekt der Spontanvergärung derart evident, dass ich mich frage, ob die "Leugner-Fraktion" solche Weine einfach nicht verkostet; ob sie alternativ dazu schlicht nicht in der Lage ist, die Unterschiede überhaupt zu erkennen; oder ob sie aus den verschiedensten Gründen nicht willens ist, zuzugeben, dass solche Unterschiede existieren.

Erst einmal muss man sehen, dass überhaupt Unterschiede da sind. Dann kann die Diskussion über gut oder schlecht beginnen.

Gruß
Ulli
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Gerald
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Re: Interessant: Spontanvergärung

Beitrag von Gerald »

Hallo,

ich weiß ja nicht, ob die letzten "Industriewein"-Anspielungen nur allgemein zu verstehen sind oder sich auf RZ-vergorene Weine beziehen.

Falls letzteres, möchte ich doch zu bedenken geben, dass RZ-Hefen nur speziell selektierte, natürliche Heferassen sind. Genauso wie die Rieslinge in den Weingärten ja auch keine Wildreben sind, sondern ebenfalls Selektionen.

Ist ein Riesling deshalb grundsätzlich ein Industriewein und nur Wein aus händisch gepflückten Beeren der Wildrebe in Auwäldern (wenn es sie noch gibt), die dann mit bloßen Füßen eingemaischt, in Amphoren spontan vergoren und selbstverständlich händisch in Ziegenhautschläuchen abgefüllt werden, sind noch "authentische" Weine? :?

Wenn man schon von "industriell" spricht - dafür steht nach meinem Verständnis vor allem eine automatische Flaschenabfüllung, wie sie auch bei spontan vergärenden Weingütern üblich ist, oder? Da lob ich mir meinen in Kürze zu kelternden 2011er - der wird nämlich ein echter "handwerklicher" Wein trotz Reinzuchthefe. Allerdings mengenmäßig etwas eingeschränkt (vermutlich 5-6 Flaschen) :D

Grüße,
Gerald
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Markus Vahlefeld
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Re: Interessant: Spontanvergärung

Beitrag von Markus Vahlefeld »

Nochmal Gerald, zum Mitschreiben ;)

Die Hefe ist nur EINE Stellschraube. Wer mit Zuchthefen vergärt, macht noch lange keinen Industriewein. Da muss an ein paar mehr Stellschrauben gedreht werden.

Und obwohl ich geneigt bin, Wolf zuzustimmen, bin ich etwas demütiger, was das Erkennen von Spontivergärung angeht. Ich glaube sogar, dass man blind die Spontivergärung nicht unbedingt rausschmecken kann. Man schmeckt mehr Vielschichtigkeit, Fremdtöne, Mehrdimensionalität. Dies aber ausschließlich auf die Spontanvergärung zurückzuführen, könnte auch verfehlt sein.

Aber, Wolf, ein Experiment wäre es wert. Können wir ja mal machen!
weinaffe
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Re: Interessant: Spontanvergärung

Beitrag von weinaffe »

Hallo zusammen,

wie Peter so treffend formulierte, sehe auch ich die Spontanvergärung als eine von vielen möglichen "Stellschrauben" bei der Vinifikation.
Dass Sponti-Weine vielschichtiger und "interessanter" als ihre Reinzuchtkollegen wirken, will ich gerne unterschreiben.
Die pauschale Behauptung, dass spontanvergorene Weine langlebiger sind, ist für mich aber keineswegs schlüssig. Warum sollte auch durch den einen oder anderen Hefestamm mehr oder weniger eine grössere Haltbarkeit erzielt werden ??
Meines Erachtens liegt das vielmehr am Betätigen vieler anderer "Stellschrauben", damit -im Sinne von Herrn Kössler- "langsame" Weine erzeugt werden können.
Bei ansonsten identischer Vinifikation sehe ich keinen triftigen Grund, warum die Sponti-Variante dem Reinzucht-Wein in punkto Haltbarkeit überlegen sein sollte.

Grüsse
Bodo
Bernd Schulz
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Re: Interessant: Spontanvergärung

Beitrag von Bernd Schulz »

Wer mit Zuchthefen vergärt, macht noch lange keinen Industriewein.
Auch hier stimme ich vorbehaltlos zu. -
Warum sollte auch durch den einen oder anderen Hefestamm mehr oder weniger eine grössere Haltbarkeit erzielt werden ??
Ich weiß offengestanden nicht, warum. Vielleicht liegt es daran, dass die meisten Reinzuchthefen die Weine schneller vergären als ihre wilden Kollegen, daran, dass sie die Fruchtaromen früher aufschließen.
Der Önologe Wolfram Börker schrieb in einem DLR-Mosel-Fachartikel: ...Infolgedessen hat ein spontanvergorener Wein sein feinstes Gäraroma erst nach Jahren, wenn ein Reinzuchthefewein bereits vom Gäraroma zum Reife-, bzw. Firnearoma übergegangen ist. Das ist in einem sensorischen Vergleich nach 3-4 Reifejahren leicht nachvollziehbar.
Nach der Flaschenfüllung wird der Wein sein Aromapotential erst in Jahren voll entfalten, Spontangärer sind Weine für die Zukunft. Es ist keine Seltenheit, dass diese Weine auch noch nach 10 Jahren so schmecken als wären es frische Weine...


Keine Ahnung, welche naturwissenschaftliche Fakten dieser Beobachtung zugrunde liegen, aber Börkers Zeilen entsprechen klar meinen langjährigen Erfahrungen.

Beim Thema Wein bin und bleibe ich ein Freund der Empirie...

Beste Grüße

Bernd
Bernd Schulz
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Re: Interessant: Spontanvergärung

Beitrag von Bernd Schulz »

Börkers kompletter Artikel ist für diejenigen, die ihn noch nicht kennen, vielleicht auch in anderer Hinsicht interessant. Hier der Link zu ihm:

http://www.dlr-mosel.rlp.de/Internet/gl ... enDocument

Beste Grüße

Bernd
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