Re: Der unabhängige Genusstrinker – gibt es ihn überhaupt?
Verfasst: Fr 8. Okt 2021, 14:11
jessesmaria hat geschrieben:Gerade erst war im Spiegel wieder ein Artikel über Alkoholsucht. Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass man nicht erst bei großen Mengen (Rauschtrinken) suchtgefährdet ist, sondern auch bei allzu regelmäßigem Konsum. Der Typus des "Spiegeltrinkers" fällt einem da natürlich ein, der aber wiederum insofern ein Extremfall ist, als er zwar nie über einen gewissen Pegel, aber quasi permanent trinkt.
Wenn den Freunden des Alkohols ins Gewissen geredet wird, kommt nie der Typus zur Sprache, den ich mir jenseits der Alternative von Sucht und Verzicht als unabhängigen "Genusstrinker" idealtypisch so vorstelle: Er trinkt Wein (es könnte auch z. B. Whisky sein, aber bleiben wir mal beim Wein) allein aufgrund seines Genusswerts, der Alkohol ist nur Mittel zum Zweck. Gleich einem Musikliebhaber, der immer möglichst viele neue Stücke kennenlernen möchte, um neue ästhetische Eindrücke zu gewinnen und seinen Horizont zu erweitern, führt die unablässige Neugierde des Genusstrinkers zu einem sehr regelmäßigen Weinkonsum, was ihn in die Nähe des "Spiegeltrinkers" rückt und suchtgefährdet erscheinen lässt. Allerdings trinkt er in der Regel erst am Abend, oder zum Mittagessen, falls passend, allenfalls ein kleines Glas, das er am liebsten gar nicht spürt. Auch ist er körperlich unabhängig und kann problemlos einige Tage pausieren (längere Pausen widerstreben aber seiner hedonistischen Lebenseinstellung). Er liebt den Facettenreichtum des Weins und vergleicht ihn darin anderen Genussmitteln wie etwa Olivenöl, die keine Suchtstoffe enthalten (womöglich hat er in der Tat zu beidem ein ähnliches Verhältnis).
Kurzum: Wein bestimmt seinen Alltag wie Käse oder Schokolade, denn Genuss ist für ihn sinnstiftend. Der Alkohol interessiert ihn nur als Geschmacksträger und nicht an sich. Deshalb greift er auch nicht zum Bier oder Obstler, wenn kein Wein da ist, und trinkt lieber keinen als schlechten Wein.
Kann das überhaupt sein? Oder ist es nur eine trügerische Idealisierung, um einem Dilemma zu entgehen, dem sich nicht entgehen lässt?
Wie würdet ihr euch selbst einordnen? Versucht ihr bewusst, der Suchtgefahr des Alkohols gegenzusteuern?