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Punkte und Prädikate

Sterne, Punkte, Trauben - oder Obstkörbe
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amateur des vins

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Punkte und Prädikate

BeitragMo 5. Jul 2021, 15:39

Im A.J.-Adam-Thread schrieb Patrick:
Moselaner hat geschrieben:Wie will man denn im 100 Punkte System noch nachvollziehbare Relationen zu den höheren Prädikaten darstellen [...], wenn ein Kabinett schon 96 Punkte hat[?]
In dieser Frage verbirgt sich das Postulat, daß "höhere" (= zuckerreichere) Prädikate systematisch höher bewertet würden und somit besser seien als "niedere" (= zuckerärmere).

De Facto ist es so, jedenfalls bei restsüßen deutschen Weinen. Immer wieder, gerade bei Horizontalen, sehe ich, daß die Bewertung quasi monoton mit dem Zucker nach oben geht. Das ist auch verständlich, denn Zucker ist schon ein teuflisches Zeug. Wie überträgt sich das ganze auf trocken ausgebaute Prädikate, und warum?

Aber warum sollte es so sein?! Ist ein Kabinett letztlich doch nicht nur eine stilistische Ausprägung, sondern tatsächlich minderwertig? Und warum werden dann völlig trockene Weine nicht systematisch als noch schlechter angesehen?

Ich freue mich auf eine lebhafte :twisted: Diskussion! :mrgreen:
Und um das ganze schonmal anzuschieben: Hier zeigt sich die ganze antiquierte Absurdität des Prädikatssytems!

Wie ist es eigentlich mit der Historie der Prädikate? Wurde das ganze System womöglich ursprünglich ausschließlich auf restsüße Weine angewandt? Gab es zu der Zeit überhaupt schon eine signifikante Anzahl trocken ausgebauter Weine?
Besten Gruß, Karsten
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UlliB

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Re: Punkte und Prädikate

BeitragMo 5. Jul 2021, 16:41

amateur des vins hat geschrieben:In dieser Frage verbirgt sich das Postulat, daß "höhere" (= zuckerreichere) Prädikate systematisch höher bewertet würden und somit besser seien als "niedere" (= zuckerärmere).

De Facto ist es so, jedenfalls bei restsüßen deutschen Weinen. Immer wieder, gerade bei Horizontalen, sehe ich, daß die Bewertung quasi monoton mit dem Zucker nach oben geht. Das ist auch verständlich, denn Zucker ist schon ein teuflisches Zeug.

Schon die Grundannahme ist falsch: es ist keineswegs so, dass restsüße Spätlesen systematisch mehr Zucker enthalten als restsüße Kabinette. Eine Spätlese von Erzeuger A kann durchaus nur halb so viel Restzucker enthalten wie ein Kabinett von Erzeuger B. Der Restzucker lässt sich durch die Wahl des Zeitpunktes des Gärungsabbruchs in einer großen Bandbreite steuern. Im Ergebnis ist dann der Alkohol mehr oder weniger hoch.

Noch kurz zur Historie: die Bezeichnungen "Spätlese" und "Auslese" gab es in Deutschland auch schon, als die systematische Erzeugung restsüßer Weine überhaupt nicht möglich war, weil dafür die technischen Voraussetzungen fehlten. Damals waren restsüße Weine reine Zufallsprodukte (meistens aus hochreifem oder edelfaulem Lesegut), bei denen es zu einem spontanen Gärungsabbruch gekommen war. Vor dem zweiten Weltkrieg waren mehr als 95% aller deutschen Weine völlig trocken - die beiden genannten Prädikate gab es aber trotzdem. Und meines Wissens nach auch damals schon weinrechtliche Vorschriften für deren Verwendung.

Gruß
Ulli
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amateur des vins

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Re: Punkte und Prädikate

BeitragMo 5. Jul 2021, 17:14

UlliB hat geschrieben:Schon die Grundannahme ist falsch: es ist keineswegs so, dass restsüße Spätlesen systematisch mehr Zucker enthalten als restsüße Kabinette. Eine Spätlese von Erzeuger A kann durchaus nur halb so viel Restzucker enthalten wie ein Kabinett von Erzeuger B.
Die Aussage zum Zuckergehalt ist sicher richtig, aber orthogonal zu meinem Verständnis von "systematisch". Dafür genügt es, daß eine positive Korrelation vorliegt - je näher an 1, desto "systematischer". Zudem würde es für die Bestätigung der Annahme genügen, wenn Horizontalen eines Winzers diesen quasimonotonen Trend aufwiesen - so kann man von stilistischen Fragen bei winzerübergreifender Betrachtung entkoppeln.

Du wirst nicht bezweifeln, daß der mittlere Zuckergehalt von Spätlesen über dem von Kabinetten liegt, oder?

Zucker hin oder her: Was macht denn nun Kabinette systematisch (sic!) schlechter, so daß es Punktespielraum für die "höheren" Prädikate geben müßte?

UlliB hat geschrieben:Noch kurz zur Historie: [...]
Danke. Hast Du womöglich eine Quelle, so daß ich dazu ein bißchen nachlesen kann?
Besten Gruß, Karsten
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UlliB

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Re: Punkte und Prädikate

BeitragMo 5. Jul 2021, 17:31

amateur des vins hat geschrieben:Du wirst nicht bezweifeln, daß der mittlere Zuckergehalt von Spätlesen über dem von Kabinetten liegt, oder?

Ganz ehrlich: da bin ich nicht sicher.

Vor 30 Jahren wäre das mit Sicherheit so gewesen. Aber heute? Ich kenne Kabinette, die haben 60 Gramm und mehr Restzucker, mehr haben die allermeisten Spätlesen auch nicht. Wenn man Mittelwerte vergleichen wollte, bräuchte man genügend große Datenmengen, um die statistisch zu vergleichen, und die habe ich nicht. Aus dem, was ich habe, lässt sich aber zumindest herleiten, dass es bei beiden Kategorien eine sehr große Überlappung der Werte gibt.

Die Kategorie "Kabinett" ist heute insofern schon sinnentleert, als dass in den meisten Jahren die Mostgewichte den für diese Kategorie eigentlich vorgesehenen rechtlichen Rahmen weit überschreiten, und die allermeisten Kabinette aus Trauben mit Spätlese- oder Auslesemostgewichten vinifiziert werden. Das sieht man auch bei trockenen "Kabinetten" - ich bin in Franken schon auf solche mit 14,5%Vol. gestoßen.
amateur des vins hat geschrieben:
UlliB hat geschrieben:Noch kurz zur Historie: [...]
Danke. Hast Du womöglich eine Quelle, so daß ich dazu ein bißchen nachlesen kann?

Leider nichts elektronisches - alles Weinbücher aus meiner Anfangszeit Mitte der 70er, als das 71er Weingesetz noch neu war und deshalb mit der rechtlichen und tatsächlichen Situation vorher verglichen wurde. So etwas findet man heute vielleicht noch antiquarisch.

Gruß
Ulli
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Bernd Schulz

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Re: Punkte und Prädikate

BeitragMo 5. Jul 2021, 21:10

amateur des vins hat geschrieben:Aber warum sollte es so sein?! Ist ein Kabinett letztlich doch nicht nur eine stilistische Ausprägung, sondern tatsächlich minderwertig? Und warum werden dann völlig trockene Weine nicht systematisch als noch schlechter angesehen?


Was genau heißt denn im Zusammenhang mit der leidigen Punkterei "gut", "schlecht" oder gar "minderwertig" genau? :twisted:

Ich trinke und bewerte ja ziemlich oft restsüße Weine. Und ebenso wie bei vielen anderen, oft weit professionelleren Verkostern (wie zum Beispiel denen des GM seit vielen Jahren) kommt ein Kabinett bei mir nur sehr selten über die 90-Punkte-Grenze. Denn die sensorische Komplexität, die eine edelsüße Auslese angesichts der weit größeren Konzentration ihrer Inhaltsstoffe jenseits von Wasser und Alkohol erreichen kann, ist bei einem Kabinett, der seinen Namen einigermaßen verdient, einfach nicht drin - und zwar ganz unabhängig davon, ob ich in an einem bestimmten Tag oder in einer bestimmten Situation Lust auf einen leichten oder einen konzentrierten Wein habe. Anders gesagt: Ein Kabinett ist gegenüber einer Auslese gewiss nicht "minderwertig", sondern hat seine völlige Daseinsberechtigung, nämlich zu anderen Gelegenheiten. Aber rein bewertungstechnisch stößt er an Grenzen; bewertet wird nun mal nach allgemeinem Konsens die an Komplexität gebundene Ausdruckskraft und nicht der Spaßfaktor.

amateur des vins hat geschrieben:Und warum werden dann völlig trockene Weine nicht systematisch als noch schlechter angesehen?


Weil es beim Prädikatssystem, soweit es ernst zu nehmen ist, eben nicht einfach nur um mehr und noch mehr Zucker (sprich: um den reinen Süßeeindruck) geht, sondern um die mit einer immer höheren physiologischen Traubenreife (im Idealfall - es handelt sich wie bei jedem Schema natürlich um eine gnadenlose Simplifizierung, der mehr als genug Ausnahmen von der Regel gegenüberstehen) korrelierende aromatische Vielschichtigkeit. Ob der Zucker Zucker geblieben ist oder nahezu komplett zu Alkohol vergoren wurde, spielt da erst einmal keine Rolle.

Herzliche Grüße

Bernd
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Moselaner

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Re: Punkte und Prädikate

BeitragMo 5. Jul 2021, 21:24

Hallo zusammen!

Ich kann Bernd nur vollumfänglich zustimmen und daher wenig Neues beitragen, da er für mich alles Relevante benannt hat und damit auch dargestellt hat, warum ich die betreffende Aussage im Adam Thread traf.

Viele Grüße
Patrick
Wo aber der Wein fehlt, stirbt der Reiz des Lebens.
Euripides
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Kle

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Re: Punkte und Prädikate

BeitragDi 6. Jul 2021, 11:22

Ähnlich wie Bernd habe ich mir auch das rätselhafte deutsche System erklärt, nachdem Qualitätsstufen und damit auch Preise an Öchslemessungen und somit Zucker gekoppelt werden.
Bernd Schulz hat geschrieben:Weil es beim Prädikatssystem, soweit es ernst zu nehmen ist, eben nicht einfach nur um mehr und noch mehr Zucker (sprich: um den reinen Süßeeindruck) geht, sondern um die mit einer immer höheren physiologischen Traubenreife

also, nehme ich an, weil ein höherer Öchslegrad/Zucker ein höheres Mostgewicht und somit allgemein mehr und reifere Inhaltsstoffe anzeigt...

Gruß, Kle
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Tristram Shandy
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Bernd Schulz

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Re: Punkte und Prädikate

BeitragDi 6. Jul 2021, 11:50

Kle hat geschrieben:also, nehme ich an, weil ein höherer Öchslegrad/Zucker ein höheres Mostgewicht und somit allgemein mehr und reifere Inhaltsstoffe anzeigt...


Genau so war die Sache ursprünglich gedacht. Das System stammt halt aus einer Vergangenheit, in der Jahrgänge mit massiven Reifeproblemen bei uns hier (an der nördlichen Weingrenze) sehr häufig vorkamen. Man kann sich das heute kaum noch vorstellen, aber in vielen Jahren war es an der Mosel oder am Rhein gar nicht möglich, eine Auslese aus Rieslingtrauben einzufahren.

Ich bin der letzte, der verkennt, dass sich durch den Klimawandel eine gewisse Problematik bei der Verwendung von Prädikaten und der Sicht auf Qualitätsursachen ergeben hat. Schon mehrfach habe ich geschrieben, dass sich deutsche Winzer immer noch zu häufig an reinen Oechslewerten orientieren. Ob man aber deshalb das ganze System über Bord werfen sollte, ist eine andere Frage. Die Müllens zum Beispiel sind der Meinung, man müsse bei den kleineren Prädikaten nicht nur eine Unter-, sondern auch eine Obergrenze des Mostgewichts einführen. Auch aus meiner Sicht wäre das eine sinnvolle Modifikation.

Herzliche Grüße

Bernd
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EThC

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Re: Punkte und Prädikate

BeitragMi 7. Jul 2021, 13:14

Bernd Schulz hat geschrieben:Die Müllens zum Beispiel sind der Meinung, man müsse bei den kleineren Prädikaten nicht nur eine Unter-, sondern auch eine Obergrenze des Mostgewichts einführen.
...ich muß hier nochmal anführen, daß der Begriff "Kabinett" hinsichtlich seiner Bedeutung insbesondere an der Mosel außerhalb der gesetzlichen Vorschriften einfach im Laufe der Zeit "gehijacked" wurde.
Ansonsten ist das Prädikatssystem einfach so gemeint (gewesen), daß die jeweiligen Stufen Mindestanforderungen definieren und im gesetzlichen Kontext alle miteinander nach oben offen sind. Dabei muß man auch berücksichtigen, daß die Mindestanforderungen in den verschiedenen Regionen bzw. sogar Bereichen (es gibt allein in Rheinland-Pfalz 7 Landesverordnungen mit teils stark unterschiedlichen Mindestanforderungen an die jeweiligen Mostgewichte) äußerst heterogen gehalten sind, für Bayern bzw. Franken gibt's hier m.W. nach keine scharfen Grenzen (zumindest nicht nach BayWeinRAV), sondern hier wird anscheinend im Prüfverfahren je Einzelfall entschieden, ob ein als Spätlese angestellter Wein auch als solcher durchgeht.
An der Mosel muß ein Kabinett min. 73 Oe aufweisen, eine Spätlese min. 80, in anderen Bereichen sind die Abstände teils deutlich geringer. Wenn man hier nun Obergrenzen einführt, dann kann z.B. das passieren, was in der Wachau dazu führt, daß zunehmend Federspiele aus der Klassifizierung herausfallen und dann "nur" Qw sind, weil jahrgangsbedingt die Max-Alk-Werte gerissen wurden, die Anforderungen für die nächst höhere Klasse jedoch nicht erreicht werden.
Aus Gründen des Klimawandels wäre es eher sinnvoll, die Mindestanforderungen allesamt ggf. ein Stück weit nach oben zu schrauben, denn heutzutage ist ja schon so ziemlich alles -auch das was relativ früh gelesen wird- im Verordnungssinne mindestens eine Spätlese...
Zuletzt geändert von EThC am Mi 7. Jul 2021, 13:29, insgesamt 1-mal geändert.
Viele Grüße
Erich

Nicht was lebendig, kraftvoll, sich verkündigt, ist das gefährlich Furchtbare. Das ganz Gemeine ist's
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was immer war und immer wiederkehrt und morgen gilt, weil's heute hat gegolten.

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amateur des vins

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Re: Punkte und Prädikate

BeitragMi 7. Jul 2021, 13:28

Das mit dem Kapern ist ein guter Hinweis:
Wenn denn die Grenzwerte heutzutage eh kaum noch eine Rolle spielen, dann ist eine Aufrechterhaltung des Prädikatswesens nur Augenwischerei. Was eigentlich abgebildet werden soll, und wofür Öchslegrade eben noch nie wirklich geeignet waren, ist eine Qualitätspyramide - ganz so, wie es beim vielgescholtenen VDP oder im großen Vorbild Burgund gemacht wird.

Und ehe jemand mit der "einzigartigen Kabinettigkeit" kommt: Ein Bourgogne ist auch i.d.R. leichter als ein GC. Womit wir wieder beim einzigen wirklichen Unterschied wären: dem Zuckergehalt restsüßer Weine, die nirgendwo eine so große Rolle spielt wie hierzulande. De facto spielen nämlich trockene Prädikate kaum eine Rolle; ganz überwiegend geht es um die süßen - man korrigiere mich (bitte mit Quellenangabe), wenn ich falsch liege.
Besten Gruß, Karsten
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