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Luca Maroni

Sterne, Punkte, Trauben - oder Obstkörbe
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Kle

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Re: Luca Maroni

BeitragDo 21. Jan 2021, 19:51

Georg R. hat geschrieben:
Es ist nur so, eines der Grundprinzipien seines Erfolges ist nun mal schlichte publicity. Und je mehr über ihn geschrieben, gelesen und gestritten wird, um so populärer wird er. Diese Masche ist im Zeitalter der neuen Medien sehr effektiv.
Man muss heute nicht mehr viel wissen oder können - solange der Name in aller Munde bleibt, spielt es keine Rolle, wenn man im Grunde nur ein simpler Scharlatan ist, wie es Erich treffend bezeichnet hat.

Gruss
Georg


das ist sicher richtig und es gibt ja sublime Methoden, solche Effekte zu erzielen. Oft hoffe ich, unberechtigt das Gras wachsen zu hören.
Trotzdem finde ich Maroni im Hinblick darauf diskussionswürdig, welches Licht er auf herkömmliche Weinbewertungen wirft. Es ist ja nicht nur billige Werbung – er muss von einem Bedürfnis, einer Lücke profitieren, die er ausfüllen kann. Klar: Wenn Discounter Barolo unter zehn Euro anbieten, sollten mit ein wenig Kreativität auch 10-Euro Weine „99 Punkte“ bekommen können.
Schlimmer finde ich, wenn, wie in vielen anderen Bereichen, durch einen Trick Begrenztheit zur Tugend erhoben wird.
Der geneigte Konsument muss es sich nicht mehr gefallen lassen, seine günstigen Lieblingsweine selten oder mäßig benotet zu sehen. Er muss sich auch nicht mehr ärgern, dass ihm weniger zugängliche Weine, die er sich zudem nicht leisten will, angeblich die besten sind. Was er schmeckt, scheint richtig (kein Wunder, da anscheinend ein Durchschnittsgeschmack wichtiges Maß für die Punkte sind).
Das alles könnte auch eine Folge der natürlichen Neigung seriöser Weinschreiber sein, sich vor allem Highend-Produkten zu widmen. Basisweine werden oft als „für Einsteiger“ relativiert, während hier im Forum zum Glück die Beschreibungen z. B. von Bernd Schulz sie in ihrer vollwertigen Pracht würdigen.

Gruß, Kle
—People may laugh as they will—but the case was this.
Tristram Shandy
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amateur des vins

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Re: Luca Maroni

BeitragDo 21. Jan 2021, 20:13

Georg R. hat geschrieben:Sind wir noch beim Thema, oder wollen wir ins Persönliche abgleiten?
:lol:

Ich bin eigentlich die ganze Zeit beim Thema... ;)
Besten Gruß, Karsten
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jessesmaria

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Re: Luca Maroni

BeitragDo 21. Jan 2021, 21:25

amateur des vins hat geschrieben:
austria_traveller hat geschrieben:
Georg R. hat geschrieben:Wenn einer behauptet, dass Weine, die eine lange Reifezeit benötigen, fehlerhaft seien, sollte man diesen Herrn nicht allzu ernst nehmen.

Er verdient nicht mal einen Thread, schon gar nicht in einem Weinforum.
Absolute Zustimmung !
Relativer Widerspruch!


Also da komme ich auch gar nicht mit, eher absoluter Widerspruch!
Man muss doch gerade auch die problematischen Dinge ansprechen dürfen, und gerade, wie das hier geschieht, ist dieser Thread doch mitnichten Werbung für Luca Maroni – eher im Gegenteil! Neulinge, die sich noch keine Meinung über LM gebildet haben, werden nach dem Lesen dieses Threads entweder vor ihm zurückschrecken oder ihn gerade aufsuchen, da sie die Standpunkte hier versnobt finden und sich davon abgrenzen möchten – dann sei es ihnen gegönnt.
Man würde ja in einem Politikforum auch nicht auf den Gedanken kommen, nicht über Trump zu sprechen (ohne Trump und LM im Ausmaß ihres angerichteten Schadens jetzt in irgendeiner Weise vergleichen zu wollen)...

Jedenfalls: So einfach scheint die Frage nach der Qualität ja doch nicht zu sein. An anderer Stellt wart ihr bemüht, zu betonen, wie subjektiv das Gefallen am Wein ist und wie wenig objektivierbar (weshalb es sich auch nicht, jedenfalls ab einem bestimmten Wert, im Preis niederschlagen kann).
Jetzt seid ihr euch aber plötzlich alle einig, dass LM ein Scharlatan ist.
Dabei legt er seine Kriterien ja klar offen und bemüht sich offenbar gerade, die objektivierbaren Qualitätsmerkmale zu beurteilen – sodass, jedenfalls so sein Anspruch, seine Höchstnoten Fehlerfreiheit, "Bekömmlichkeit" und "Frische" verbürgen.

Dass er kritisiert, dass...

Parker, Suckling, Gambero Rosso – niemand erklärt, welche Parameter diese Tester anwenden. Ich würde gerne wissen, wie sie arbeiten. Keiner von ihnen sagt, was Qualität ist. Ich schon. Ich bin der einzige Verkoster der Welt, der das tut und ich bin nicht stolz darauf. Die Menschen haben ein Recht darauf zu wissen, wie man zu einem Urteil kommt.


... ist doch ein Aufruf, mehr über die Grundlagen seiner Urteile zu reflektieren, bevor man andere dafür kritisiert, dass sie auf anderen Grundlagen urteilen – das ist für mich zumindest einfach eine Abkürzung zu viel! Wer entscheidet, wer die "richtigen" Kriterien hat? Warum ist Säure gut und Süße schlecht? (So pauschal gilt das natürlich bei niemandem, aber ihr wisst, was ich meine.)

Ein paar vielleicht inspirierende Gedanken dazu habe ich in einem schon etwas älteren Essay namens "Kleine Frankfurter Schule des Essens und Trinkens" von Detlev Claussen (von 1987) gefunden. Auch Wein wird darin beispielhaft erwähnt.

Das Urteil »Geschmacklosigkeit des Hamburgers« stellt eine Qualität der Ware fest. Überall auf dem Globus kann ich sie einnehmen ebenso wie die Coke – und sie schmeckt gleich. Im Hamburger steckt das Universalitätsprinzip der Ware, die Abstraktion von Zeit und Raum. Ohne dieses Universalitätsprinzip gäbe es keine Wahrheit, aber es selbst ist die Wahrheit nicht. Eine schreckliche Vorstellung, daß die Wahrheit geschmacklos wäre! Der Hamburger bringt uns die Eine Substanz, von der Spinoza sprach: sive Deus, sive Natura – wohlfeil auf den Tisch. Ohne diese Eine Substanz Spinozas wäre die ganze moderne Philosophie nicht, argumentiert Hegel in seiner »Geschichte der Philosophie«. Der Hamburger ist eben mehr als ein Stück Hackbraten, wie der »Spiegel« ihn abfällig nennt: er ist ein »sinnlich übersinnliches Ding«. Das Moment des Übersinnlichen macht gerade seine Geschmacklosigkeit aus.


LM, so scheint mir, sucht das "Allgemeine": sein 99-Punkte-Wein ist wie der perfekte Hamburger, am besten immer gleich.

Ferner schreibt Claussen:

Essen und Trinken, Kultur, d.h. die Dimension gesellschaftlicher Beziehungen, die über die unmittelbare Selbsterhaltung hinausgeht, lebt von der spezifischen Differenz, vom bestimmten Unterschied: Differentia specifica, das Kriterium der Wahrheit. »Über Geschmackläßt sich nicht streiten« heißt ein altes Vorurteil. Selbstverständlich läßt sich über Geschmack streiten – nur nicht gut, wenn man nichts weiß. Zum guten Streit gehört die Wahrnehmung des bestimmten Unterschieds, Kenntnis der Geschichte, die bisher ambivalente Geschichte von Verfeinerung und Verarmung zugleich ist. Die Möglichkeit eines Streits über Geschmackfragen beginnt erst, wenn man sich von der Naturbasis entfernt und sich bearbeiteter Natur zuwendet. Die Herkunft kann entscheidend sein: aus einem Rheinwein wird eben nie ein Chablis.


Und am Ende schreibt er:

Bewußtes Essen und Trinken kann trennend sein und wird oft als feindlich empfunden, weil es mit der Fremdheit im Vertrauten bekannt macht. [...] Bewußtes Essen und Trinken heißt noch nicht gutes Essen, aber es fordert das Wahrnehmen der Differenz heraus. Wer mit dem Fremden gemeinsam essen will, muß Anderes wollen, als er schon kennt.


Vielleicht liegt da die Crux? Dem bewussten Trinker geht es um "das Wahrnehmen der Differenz": eben das macht die Kriterienbildung so schwierig, weil es keine Vorlage gibt, der das jeweilige Produkt (der Wein) möglichst nahe kommen soll (wie bei Luca Maroni), sondern gerade die Differenz, mithin das Neue des Erlebnisses ja das Qualitätsmerkmal darstellt.
Dasselbe Problem hat man natürlich in der Kunst: Über moderne Kunst und Musik gibt es gar keine gemeinsame Urteilsbasis mehr (so wie im 18. Jahrhundert man noch von einem "sensus communis" gesprochen hat), kaum jemand kann wirklich die Ursachen ihrer jeweiligen Qualität wirklich zwingend und nachvollziehbar darlegen, und doch meint jeder, sich ein Urteil bilden zu können. Und die "Kenner" sind sich darin einig, dass sie mehr von der Sache verstehen und die Laien, falls sie Qualität nicht anerkennen, einfach zu wenig.
Denn das Werk zeichnet sich zuvorderst durch seine Originalität aus, nicht durch das Erfüllen außerhalb des einzelnen Werkes liegender Normen. (Früher war das ja noch so, da konnten bestimmte Formen in der Malerei, Musik und Architektur etwa mehr oder weniger gut, differenziert, durchdacht und stimmig realisiert werden.)

Der Durchschnitts-Trinker ist, als "Ideal-Typus", dann im Gegensatz derjenige, der immer das Vertraute sucht und stets das Gleiche erwartet. Er sucht keine neuen Erfahrungen. Deshalb kauft er auch Milka-Schokolade, weil sie immer gleich schmeckt und er genau weiß, was ihn erwartet. Er braucht eine Orientierung, mit der er das finden kann, was er sucht – das bietet, offenbar, nur Luca Maroni.

Ich werde mir jedenfalls so schnell keinen LM-Primitivo kaufen. Ich habe sowieso kein wirkliches Interesse an Primitivo, da ich gewohnt bin, diesen Wein immer im offenen Ausschank beim Italiener serviert zu bekommen und mir noch nie einer bleibend in Erinnerung geblieben ist. Da ich bereits so viele tolle Weinrichtungen allein bei Rotwein aus Italien für mich entdeckt habe (Sangiovese, Valpolicella, Pinot Noir aus Südtirol etc.), steht für mich der Primitivo erst mal ganz hinten an... Oder kann mir jemand sagen, warum man unbedingt einen guten Primitivo trinken sollte und was ihn einzigartig macht?
Zuletzt geändert von jessesmaria am Do 21. Jan 2021, 21:41, insgesamt 1-mal geändert.
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amateur des vins

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Re: Luca Maroni

BeitragDo 21. Jan 2021, 21:38

jessesmaria hat geschrieben:Jetzt seid ihr euch aber plötzlich alle einig, dass LM ein Scharlatan ist.
Nö. Ich habe dazu garkeine Aussage getroffen.

Ich habe eine (kurze) Weile beobachtet, ob es eine gute Korrelation zwischen seinen Bewertungen und meinem Geschmack gibt, keine festgestellt (auch nicht negativ :D), und bin dann weitergegangen. Seine Bewertungen erscheinen mir erratisch: Mal paßt es für mich, mal nicht. Das ist nicht besser als Würfeln, also habe ich ihn für mich abgehakt, unabhängig davon, ob irgendjemand seine Kriterien gutheißt oder nicht.
Besten Gruß, Karsten
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jessesmaria

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Re: Luca Maroni

BeitragDo 21. Jan 2021, 21:45

amateur des vins hat geschrieben:
jessesmaria hat geschrieben:Jetzt seid ihr euch aber plötzlich alle einig, dass LM ein Scharlatan ist.
Nö. Ich habe dazu garkeine Aussage getroffen.

Ich habe eine (kurze) Weile beobachtet, ob es eine gute Korrelation zwischen seinen Bewertungen und meinem Geschmack gibt, keine festgestellt (auch nicht negativ :D), und bin dann weitergegangen. Seine Bewertungen erscheinen mir erratisch: Mal paßt es für mich, mal nicht. Das ist nicht besser als Würfeln, also habe ich ihn für mich abgehakt, unabhängig davon, ob irgendjemand seine Kriterien gutheißt oder nicht.


Ja, du bist konsequent. ;)
Du stellst fest, dass er deinen subjektiven Geschmack nicht trifft.
Andere haben sich hier aber ganz anders geäußert (was ja auch ihr gutes Recht ist!), bis hin zu dem Vorwurf, überhaupt mit LM dieses Forum zu verschmutzen (da bin ich anderer Meinung).
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Georg R.

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Re: Luca Maroni

BeitragDo 21. Jan 2021, 21:46

Kle hat geschrieben:
Der geneigte Konsument muss es sich nicht mehr gefallen lassen, seine günstigen Lieblingsweine selten oder mäßig benotet zu sehen. Er muss sich auch nicht mehr ärgern, dass ihm weniger zugängliche Weine, die er sich zudem nicht leisten will, angeblich die besten sind. Was er schmeckt, scheint richtig (kein Wunder, da anscheinend ein Durchschnittsgeschmack wichtiges Maß für die Punkte sind).
..............


Das ist unser Zeitgeist, ein wenig Trumpismus schwingt da wohl auch mit. Gegen das establishment zu sein ist ja erstmal nicht verkehrt, hier aber wird die "Unzufriedenheit" schamlos ausgenutzt.

Wenn ich mich an meine Anfangszeiten erinnere, waren mir trockene Weissweine zu sauer, halbtrocken war angesagt.
Hätte es damals schon einen Maroni gegeben, dem ich blind gefolgt wäre, würde ich wohl immer noch halbtrocken trinken.

Und das ist eigentlich der entscheidende Punkt, dem ich dem Herrn ankreide, denn er senkt das Niveau.
Ein Winzer, der ehrlich arbeitet und eine ordentliche Flasche Wein produziert, wird mit seinen 89 Punkten für 15 Euro beim Gelegenheitstrinker keine Chance haben gegen 12.50 Euro mit 99 Maronipunkten.
Denn seien wir ehrlich, wer sich mit Wein nicht so auskennt, schaut erstmal auf diverse Bewertungen.
Das ist dem Herrn bewusst und füllt sich damit seinen Geldbeutel.

Gruss
Georg
Man kann die Erkenntnisse der Medizin auf eine knappe Formel bringen: Wasser, mäßig genossen, ist unschädlich.
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Georg R.

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Re: Luca Maroni

BeitragDo 21. Jan 2021, 21:56

jessesmaria hat geschrieben:Andere haben sich hier aber ganz anders geäußert (was ja auch ihr gutes Recht ist!), bis hin zu dem Vorwurf, überhaupt mit LM dieses Forum zu verschmutzen (da bin ich anderer Meinung).


Meine erste Reaktion auf diesen Thread war nicht persönlich gegen Dich gerichtet, sondern mehr der Tatsache geschuldet, dass immer mehr Schreihälse und Wichtigtuer unser Leben beeinflussen wollen.
Weitermachen 8-)
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Kle

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Re: Luca Maroni

BeitragDo 21. Jan 2021, 23:07

jessesmaria hat geschrieben:Dass er kritisiert, dass...

Parker, Suckling, Gambero Rosso – niemand erklärt, welche Parameter diese Tester anwenden. Ich würde gerne wissen, wie sie arbeiten. Keiner von ihnen sagt, was Qualität ist. Ich schon. Ich bin der einzige Verkoster der Welt, der das tut und ich bin nicht stolz darauf. Die Menschen haben ein Recht darauf zu wissen, wie man zu einem Urteil kommt.


... ist doch ein Aufruf, mehr über die Grundlagen seiner Urteile zu reflektieren, bevor man andere dafür kritisiert, dass sie auf anderen Grundlagen urteilen – das ist für mich zumindest einfach eine Abkürzung zu viel! Wer entscheidet, wer die "richtigen" Kriterien hat? Warum ist Säure gut und Süße schlecht? (So pauschal gilt das natürlich bei niemandem, aber ihr wisst, was ich meine.)


Natürlich erklären andere Verkoster, worauf ihre Urteile basieren. In VKN´s bauen sie auf Begriffen wie z.B.Komplexität auf, da ihre special-Interest Leser wissen, dass es um etwas Positives geht und man auf Basis ähnlicher Trinkerfahrungen kommuniziert. Derselbe Begriff wird womöglich negativ beim Bedürfnis nach einem mehr einheitlichen und nachhaltigen Geschmackserlebnis, dem es weniger auf die Vieldeutigkeit von Aromen ankommt. Entsprechend gibt es die verbreitete Gewohnheit, immer wieder denselben Wein zu kaufen, der sich geschmacklich reproduzieren soll.
Wer als durchschnittlicher Städtereisender mit einem kunstgeschichtlichen Fachbuch nach Rom reist, reagiert vielleicht befremdet, wenn ihm eine düstere kleine Kirche als bezaubernd beschrieben wird. Er hätte ein anderes Buch mitnehmen sollen, aber wird hoffentlich nicht erklären, besser zu wissen, was „bezaubernd“ ist.
Der erwähnte Erkenntnistheoretiker und leidenschaftliche Empiriker Kant lässt sich schlecht für Geschmacksfragen einschalten, für die niemand eine wissenschaftliche Grundlage einfordert. Es geht um den bestmöglichen Vergleich von Erfahrungen und nicht um Faktenanalyse oder gar absolute Wahrheiten. Anders gesagt: Mir ist lieber, wenn Parker keine Kriterien hat, solange ich ihn verstehe.
Es gab in Weinrunden einst schöne Diskussionen über Begriffe wie „Harmonie“ und „Länge“ und wie weit sie über die Qualität eines Weines entscheiden. Für manche ja, für andere nicht. Es ist schön, wenn jemand erklärt, was „Harmonie“ im Wein für ihn bedeutet, wie ergriffen er ist. Ich teile die Begeisterung nicht, weiß aber künftig, wie er empfindet und bewertet. So kompliziert ist es.

Gruß, Kle
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Bernd Schulz

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Re: Luca Maroni

BeitragDo 21. Jan 2021, 23:52

jessesmaria hat geschrieben:Ein paar vielleicht inspirierende Gedanken dazu habe ich in einem schon etwas älteren Essay namens "Kleine Frankfurter Schule des Essens und Trinkens" von Detlev Claussen (von 1987) gefunden. Auch Wein wird darin beispielhaft erwähnt.

Das Urteil »Geschmacklosigkeit des Hamburgers« stellt eine Qualität der Ware fest. Überall auf dem Globus kann ich sie einnehmen ebenso wie die Coke – und sie schmeckt gleich. Im Hamburger steckt das Universalitätsprinzip der Ware, die Abstraktion von Zeit und Raum. Ohne dieses Universalitätsprinzip gäbe es keine Wahrheit, aber es selbst ist die Wahrheit nicht. Eine schreckliche Vorstellung, daß die Wahrheit geschmacklos wäre! Der Hamburger bringt uns die Eine Substanz, von der Spinoza sprach: sive Deus, sive Natura – wohlfeil auf den Tisch. Ohne diese Eine Substanz Spinozas wäre die ganze moderne Philosophie nicht, argumentiert Hegel in seiner »Geschichte der Philosophie«. Der Hamburger ist eben mehr als ein Stück Hackbraten, wie der »Spiegel« ihn abfällig nennt: er ist ein »sinnlich übersinnliches Ding«. Das Moment des Übersinnlichen macht gerade seine Geschmacklosigkeit aus.


Wir befinden uns mit diesem Zitat von Claussen auf einem für mich interessanten, aber eben auch insgesamt sehr glatten gedanklichen Terrain. Ich möchte die Diskussion im Rahmen eines Weinforums nicht zu sehr vertiefen, aber die Aussage, dass uns der Hamburger (oder der banal anmutende Maroni-Weinfavorit) die "Eine Substanz" im Sinne Spinozas "wohlfeil auf den Tisch" bringen würde, halte ich doch für mehr als gewagt, denn eine Universalität beziehungsweise Übersinnlichkeit, die in der Geschmacklosigkeit besteht, stellt für mich eher ein Nihilitäts- als ein Universalitätsprinzip dar. Anders gesagt: Dass etwas überall gleich platt wirkt, würde ich im Gegensatz zu Herrn Claussen nie und nimmer als "Abstraktion von Zeit und Raum" verkaufen oder auch nur verstehen wollen. Vielmehr habe ich bei der Lektüre von Claussens Zeilen den Eindruck, dass sich hier jemand mächtig darum bemüht, vernünftige Maßstäbe auf Teufel komm heraus zu egalisieren - gemäß dem Motto, dass der niedrigste geschmackliche Nenner die größtmögliche "Abstraktion von Raum und Zeit" mit sich bringt. Was für ein Unfug!

Herzliche Grüße

Bernd
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jessesmaria

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Re: Luca Maroni

BeitragFr 22. Jan 2021, 00:32

Kle hat geschrieben:Natürlich erklären andere Verkoster, worauf ihre Urteile basieren. In VKN´s bauen sie auf Begriffen wie z.B.Komplexität auf, da ihre special-Interest Leser wissen, dass es um etwas Positives geht und man auf Basis ähnlicher Trinkerfahrungen kommuniziert.


Ist m. E. aber ein sehr schwieriger Begriff. Würde mich aber dennoch interessieren, warum er für LM kein klares Kriterium ist. Wahrscheinlich, weil sich Komplexität immer anders äußert. Es handelte sich also eher um eine formale denn um eine materiale Kategorie, wenn man das so sagen kann...

Derselbe Begriff wird womöglich negativ beim Bedürfnis nach einem mehr einheitlichen und nachhaltigen Geschmackserlebnis, dem es weniger auf die Vieldeutigkeit von Aromen ankommt. Entsprechend gibt es die verbreitete Gewohnheit, immer wieder denselben Wein zu kaufen, der sich geschmacklich reproduzieren soll.


Nun wäre eben zu fragen, was daran verwerflich ist, genau dieses Bedürfnis zu befriedigen und dieser Zielgruppe Orientierung zu geben. Ja, man kann argumentieren, dass es einige in die Irre führen könnte und ihnen höhere Genüsse verwehrt, aber da kann man auch sagen: Sapere aude!

Der erwähnte Erkenntnistheoretiker und leidenschaftliche Empiriker Kant lässt sich schlecht für Geschmacksfragen einschalten, für die niemand eine wissenschaftliche Grundlage einfordert. Es geht um den bestmöglichen Vergleich von Erfahrungen und nicht um Faktenanalyse oder gar absolute Wahrheiten.


Das sehe ich anders. Natürlich geht es auch bei Kant nicht um "Faktenanalyse".
Ich meine den Kant der KdU. Um mal ganz pragmatisch Wikipedia zu bemühen:

In seiner kritischen Begründung der Ästhetik untersucht Kant den Geltungsanspruch ästhetischer Urteile. Wer zu ästhetischen Urteilen über das Schöne fähig sei, beweise Geschmack. Geschmacksurteile sind subjektiv und empirisch auf einen Einzelfall, eine Landschaft, ein Kunstwerk bezogen: „Das Geschmacksurteil ist also kein Erkenntnisurteil, mithin nicht logisch, sondern ästhetisch, worunter man dasjenige versteht, dessen Bestimmungsgrund nicht anders als subjektiv sein kann.“


Es geht ganz wesentlich um Geschmacksurteile und genau darum, was du schreibst: dass sie eben nicht logisch bzw. wissenschaftlich, sondern ästhetisch sind. M. E. gehört Wein eher in den Bereich des Ästhetischen, denn:

Im ersten Teil analysiert Kant zunächst die Besonderheit von Geschmacksurteilen. Sie sind a) ästhetisch, nicht logisch, b) interesselos, c) arbeiten ohne Begriffe und Zweckvorstellungen und beanspruchen eine besondere Form der Allgemeingültigkeit.


Zu a) s. o.; zu b): wie an anderer Stelle bereits geschrieben, denke ich, dass Wein von all dem, was wir essen und trinken, am ehesten interesselos ist, da der Weinkonsum idealerweise keinen anderen Zweck hat außer sich selbst (er stillt weder Hunger noch Durst; er kann einen sozialen Zweck haben, aber beim Weinkonsum auf der Party geht es ja nicht um Weingenuss im engeren Sinne; c) man kann sich mit Begriffen (Metaphern) immer nur annähern und Assoziationen hervorrufen, aber das Urteil ist doch mehr oder weniger begrifflos (also das, was LM stört) und beansprucht doch eine Form von Allgemeingültigkeit:

Obwohl Geschmacksurteile nicht beweisbar sind, beanspruchen sie, allgemein zustimmungsfähig zu sein, richten sich also auf eine Allgemeingültigkeit und sind entsprechend formuliert („Das Bild ist schön“, nicht: „Das Bild ist für mich schön“). Sie beanspruchen Allgemeingültigkeit, insofern sie „das Wohlgefallen an einem Gegenstande jedermann ansinne(n)…“


Das Urteil des Verkosters ist nicht: "Der Wein ist für mich gut", sondern "Der Wein ist gut".

Dennoch ist es (wie du auch schreibst) kein wissenschaftliches, objektives Urteil:

Im Gegensatz zu wissenschaftlichen und moralischen Aussagen haben ästhetische Urteile für Kant keine objektive, sondern eine subjektive Allgemeinheit.


... Soweit jedenfalls mein bisheriges Verständnis von Kant...

Wir befinden uns mit diesem Zitat von Claussen auf einem für mich interessanten, aber eben auch insgesamt sehr glatten gedanklichen Terrain. Ich möchte die Diskussion im Rahmen eines Weinforums nicht zu sehr vertiefen, aber die Aussage, dass uns der Hamburger (oder der banal anmutende Maroni-Weinfavorit) die "Eine Substanz" im Sinne Spinozas "wohlfeil auf den Tisch" bringen würde, halte ich doch für mehr als gewagt, denn eine Universalität beziehungsweise Übersinnlichkeit, die in der Geschmacklosigkeit besteht, stellt für mich eher ein Nihilitäts- als ein Universalitätsprinzip dar. Anders gesagt: Dass etwas überall gleich platt wirkt, würde ich im Gegensatz zu Herrn Claussen nie und nimmer als "Abstraktion von Zeit und Raum" verkaufen oder auch nur verstehen wollen. Vielmehr habe ich bei der Lektüre von Claussens Zeilen den Eindruck, dass sich hier jemand mächtig darum bemüht, vernünftige Maßstäbe auf Teufel komm heraus zu egalisieren - gemäß dem Motto, dass der niedrigste geschmackliche Nenner die größtmögliche "Abstraktion von Raum und Zeit" mit sich bringt. Was für ein Unfug!


Naja, es ist immer etwas schwierig, wenn man die Zitate aus ihrem Kontext entnimmt: ihr könnt den ganzen Text aber als pdf ergoogeln.
Claussen drückt sich etwas pointiert und provokant aus, aber ich verstehe ihn so: Der Hamburger als Auswuchs des Kapitalismus ist insofern sozusagen nach der Platonischen Idee modelliert, als er zu jeder Zeit und überall gleich schmecken soll. Das wird natürlich als Verarmung aufgefasst. An anderer Stelle schreibt er, auch wieder mit Bezug auf Wein:

Infolge der künstlichen Produktionsmethoden in Landwirtschaft, Metzgerei, Küferei werden die starken Speisen, die Unterschiede abgeschliffen – ganz wie auf anderen Gebieten. So wie heute Spargel ähnlich einer Erbse schmeckt, nimmt auch, infolge der Manipulationen, der eigene Geschmack des Schinkens oder der Wurst ab, der Salat, die Kartoffel büßen von ihrem spezifischen Aroma ein. Der Wein trägt immer noch die Zeichen des Unterbrechen seines Gärungsprozesses und des vorsorglichen Zusatzes von schwefeliger Säure an sich. Das steht im Dienst rascherer, rationellerer, umfangreicherer Produktion. Als Wirkungdavon verflacht freilich auch das subjektive Organ, und eine Karotte von ehedem dürfte heute schon den zivilisierten Gaumen anmuten wie den Bürger das Betreten eines knoblauchgeschwängerten Mietshauses in Lennox Avenue.
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