Aktuelle Zeit: Sa 27. Apr 2024, 08:04


(Ãœber)vorsichtige Weinbeschreibungen

Sterne, Punkte, Trauben - oder Obstkörbe
  • Autor
  • Nachricht
Offline
Benutzeravatar

Gerald

Administrator

  • Beiträge: 7487
  • Bilder: 32
  • Registriert: Do 24. Jun 2010, 08:45
  • Wohnort: Wien
  • Bewertungssystem: Auf Benutzername klicken

Re: (Ãœber)vorsichtige Weinbeschreibungen

BeitragDo 30. Dez 2010, 11:18

Hallo Wolfgang,

die Ähnlichkeit mit den Arbeitszeugnissen ist mir ja auch aufgefallen. Nur da kennen die (potenziellen) nächsten Arbeitgeber ja die tiefere Bedeutung von z.B. "Herr X hat sich redlich bemüht, die an ihn gestellten Anforderungen zu erfüllen" (= völlig unfähig ;) ). Beim Wein sieht es anders aus. Wenn da ein Profi eine wahrnehmbare Bitternote einfach nicht erwähnt, dann wird das doch das Vertrauen an seine VKN beschädigen, oder? Oder - pessimistisch gesehen - kann man 90% der Käufer des Weinguides einfach eine unzutreffende VKN einfach zumuten, da diese ohnehin mehr der gedruckten Bewertung als dem eigenen Geschmack vertrauen? So frei nach "Des Kaisers neue Kleider" ? :(

Grüße,
Gerald
Offline
Benutzeravatar

Gerald

Administrator

  • Beiträge: 7487
  • Bilder: 32
  • Registriert: Do 24. Jun 2010, 08:45
  • Wohnort: Wien
  • Bewertungssystem: Auf Benutzername klicken

Re: (Ãœber)vorsichtige Weinbeschreibungen

BeitragDo 30. Dez 2010, 11:47

Hallo Peter,

Eine Flasche Wein hat wohl auch eine andere Wertigkeit als ein gerade freigesetzter Arbeitnehmer


ein Sieg z.B. im Falstaff-Weinguide kann aber für ein Weingut schon sehr viel Geld bedeuten, solche Weine sind oft in wenigen Wochen ausverkauft, während sie andernfalls manchmal wie Blei in den Regalen liegen - besonders natürlich die höherpreisigen Weine. Wenn ein Weingut gerade am Rande der Liquidität wirtschaftet, kann das durchaus über Weiterbestand oder eben nicht entscheiden ...

Grüße,
Gerald
Offline
Benutzeravatar

pivu

  • Beiträge: 370
  • Registriert: Mi 3. Nov 2010, 10:48
  • Wohnort: Frankfurt & Wien

Re: (Ãœber)vorsichtige Weinbeschreibungen

BeitragDo 30. Dez 2010, 12:15

Hallo Gerald,
Gerald hat geschrieben:
Eine Flasche Wein hat wohl auch eine andere Wertigkeit als ein gerade freigesetzter Arbeitnehmer

ein Sieg z.B. im Falstaff-Weinguide kann aber für ein Weingut schon sehr viel Geld bedeuten,

solch ein Sieg definiert sich aber über Punkte und nicht über Texte. Wenn eine Opernpremiere verrissen (oder umjubelt) wird, dann geschieht das textlich fundiert und der Autor wird dazu stehen. Warum sollte er das Ereignis auch beschönigen? Und warum kann gleiches nicht auch für große Teile der Weinkritik gelten?

Ciao
Peter
Offline
Benutzeravatar

Gerald

Administrator

  • Beiträge: 7487
  • Bilder: 32
  • Registriert: Do 24. Jun 2010, 08:45
  • Wohnort: Wien
  • Bewertungssystem: Auf Benutzername klicken

Re: (Ãœber)vorsichtige Weinbeschreibungen

BeitragDo 30. Dez 2010, 12:26

Hallo Peter,

Und warum kann gleiches nicht auch für große Teile der Weinkritik gelten?


vielleicht einfach aus wirtschaftlichen Gründen:

a) Weinguides erwarten, dass sie die Weine zum Test kostenlos bekommen (verlangen teilweise sogar noch Geld dafür)
b) manche - zumindest das führende Weinmedium in Ö - verdienen viel Geld mit bezahlten Anzeigen der Winzer, die noch dazu nicht immer leicht als solche zu erkennen sind (war das jetzt ein Bericht über ein Weingut oder eine Anzeige? :o )

So gesehen sind die Weinguides auf das Wohlwollen der Winzer angewiesen. Bei der Opernkritik ist Ähnliches ja unvorstellbar.

Auf der Strecke - beim Wein - bleibt dann der Konsument bzw. der Leser der Weinguides. Wie schon früher oft diskutiert wäre die einzige Lösung, dass Weinkritik wie Restaurantkritik abläuft: also Wein selbst (am besten anonym) einkaufen und ohne wirtschaftliche Abhängigkeit (Anzeigekunden) neutral verkosten. Es ist aber auch klar, dass dies bei den etablierten Weinmedien schon aus wirtschaftlichen Gründen undenkbar ist.

Da ist dann eine VKN eines Amateurs ohne wirtschaftliche Interessen vielleicht besser als die eines erfahrenen und mit großer sensorischer Kompetenz ausgestatteten Profis, der nur leider nicht das schreiben kann, was er eigentlich denkt ...

Grüße,
Gerald
Offline
Benutzeravatar

Charlie

  • Beiträge: 1065
  • Registriert: Mo 6. Dez 2010, 16:13
  • Wohnort: Berlin, Heidelberg
  • Bewertungssystem: Auf Benutzername klicken

Re: (Ãœber)vorsichtige Weinbeschreibungen

BeitragDo 30. Dez 2010, 16:23

Apropos: habt ihr das Gefühl, dass die VKNs im Cellartracker netter sind als die inder VKN-Datenbank? Wie sind die französischen Profis in dieser Hinsicht? Wenn ich hin und wieder die Revue de Vins de France durchblättere, kommen mir die VKNs doch härter vor.
Offline
Benutzeravatar

Don Miguel

  • Beiträge: 426
  • Registriert: Mi 3. Nov 2010, 19:01

BeitragDo 30. Dez 2010, 17:28

Gerald hat geschrieben:ich habe immer öfter den Eindruck, dass - nicht nur, aber vor allem - Profis bei ihren Weinbeschreibungen krampfhaft jedes Wort vermeiden, dass negativ ausgelegt werden könnte, selbst wenn es im Kontext gar kein Problem darstellen würde. Wenn der Wein einen kleinen Makel hat, wird dieser - so mein Eindruck - einfach nicht weiter erwähnt, sondern nur die positiven Aspekte beschrieben. Mit Makel meine ich jetzt nicht grobe Weinfehler, sondern z.B. leichte Bitternoten, unharmonisch-schale Noten oder auch unharmonische Säure (zu wenig oder aber beißend/kratzend).

Die eigentliche Abwertung findet dann nur mehr über die Punkte statt, weshalb man in dieser Situation auch gar nicht auf diese verzichten könnte.

Ist das nur mein persönlicher Eindruck oder habt ihr auch schon Ähnliches gedacht?


Servus Gerald,

zu deiner Ausgangsfrage ein klares „ja“ von mir, ich habe diesen Eindruck häufig!

Obwohl man ja „Punkte nicht trinken kann“ muss ich feststellen, dass viele VKN ohne ergänzende Punkteangaben für mich nur eine sehr beschränkte bis gar keine Aussagekraft haben – auch und insbesondere, aber nicht nur, bei Profis! Die Diskrepanz zwischen positiver Beschreibungen und verhältnismäßig geringen Punktezahlen kann ich oft nicht nachvollziehen.

In einer idealen Welt wünsche ich mir eine umfassende VKN mit ausgewogenen positiven und negativen Feststellungen, die in nachvollziehbaren Wertungen – ob 100er- oder 20er-Punktesystem, Sternen oder Schulnoten – enden.

Wie meistens ist ein Ideal aber nur ein Wunsch und die Realität sieht anders aus: Bei den Profis gibt es z. B. die bereits erwähnten wirtschaftlichen Zwänge und bei uns Laien fachliche oder sensorische Defizite oder ganz simpel, mangelnde Erfahrung.

Ein weites, schwieriges Feld!

Grüße
Don
Offline
Benutzeravatar

WoFu

  • Beiträge: 242
  • Registriert: Mo 6. Dez 2010, 17:52

Re: (Ãœber)vorsichtige Weinbeschreibungen

BeitragDo 30. Dez 2010, 18:13

Moin, moin,

ich bin ja nun kein Operngänger und lese daher auch keine entsprechenden Kritiken. Aber wenn ich mal im Konzert oder einer bei einer anderen Veranstaltung war und später eine Kritik darüber lese bin ich ziemlich häufig erstaunt, wer denn bei welcher Veranstaltung war oder ob der Schreiber vielleicht nach fünf Minuten weg war; wir haben ja keine Zeit... Zugeben muß ich aber, daß es in diesem Bereich durchaus auch negative Artikel gibt.

Zur wirtschaftlichen Verbindung zwischen Weinkritik und Winzer sind hier ja zwischenzeitlich auch andere Beiträge gekommen. Ohne einen Beweis dafür zu haben, gehe ich von einer starken Verquickung von Interessen aus. Als Winzer würde ich mir ja auch lobende Kritik wünschen und warum sollte ich jemandem, der meine Produkte nicht versteht (oder verstehen will oder anderweitig schlecht macht) noch kostenlos etwas zur Verfügung stellen?

Auch meine Zustimmung dazu, daß der Empfängerkreis für Arbeitszeugnisse ungleich kleiner ist als für Weine. Daher werde ich immer skeptischer für Lobgesänge, vor allem wenn ich den Autor nicht einschätzen kann. Wie oft wird mit 90 oder mehr ParkerPunkten für (häufig spanische) Weine heftige Werbung gemacht. Ich brauche diese Tropfen nicht wirklich, einige Versuche genügten mir. Interessanter finde ich Kritiken die Weine betreffen, für die ich ohnehin eine gewisse Vorliebe habe (z. B. Anbaugebiet, Rebsorte), aber meine Kaufentscheidungen treffe ich weiter lieber nach einem Probeschluck, auch dann kann ich später daneben liegen, dann aber niemanden anderem die Schuld geben...

Grüße

Wolfgang
Offline
Benutzeravatar

innauen

  • Beiträge: 3504
  • Bilder: 8
  • Registriert: Mi 3. Nov 2010, 12:33
  • Wohnort: Berlin

Re: (Ãœber)vorsichtige Weinbeschreibungen

BeitragDo 30. Dez 2010, 18:32

Hallo,

gehen wir es mal juristisch an ;) Arbeitgeber sind gesetzlich gehalten die Arbeitszeugnisse von Arbeitnehmern "wohlwollend" abzufassen. Warum? Arbeitgeber und Arbeitnehmer teilen häufig ein Näheverhältnis, das nicht dazu führen soll, dass nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses allzuheftig "ausgeteilt" wird. Denn die Erfahrung zeigt, dass ein anderer Arbeitgeber mit den Leistungen des Arbeitnehmern sehr viel besser zu Rande kommt. Das führt dann zu der mancmal grotesken Situation, dass man in ein Zeugnis übervorsichtige Forumulierungen wie "Er hat sich immer bemüht" unterzubringen, wo jeder, der diesen Code kennt, nur noch mit dem Kopf schüttelt.

Kann man das Gesagt auf Weinbeschreibungen übertragen :D Die Antwort liegt auf der Hand. :!: Punkt 1) Zwischen Kritikern und Winzern gibt es ebenfalls ein Näheverhältnis. Spätestens im nächsten Jahrgang sieht man sich wieder. Was dem einen Kritiker schmeckt, findet der nächste grausig. Man kann das beklagen, aber nicht ändern. Denn ausser den Weinbauverbänden mit ihren billigen Medaillen kann niemand die Winzer zwingen, ihre Weine vorzuführen (zu lassen). Siehe Figeac und Parker. Punkt 2) Genausowenig wie bei der Bewertung von Arbeitsleistungen gibt es bei der Bewertung von Wein eine vollständige Objektivität. Für Arbeitsleistungen kann ich einzelne Parameter wie Fehlzeiten, grobes Fehlverhalten etc. heranziehen. Aber alle diese Punkte können stimmen und trotzdem muss ich mit einem Arbeitnehmer nicht zufrieden sein (und umgekehrt). Bei Wein gibt es natürlich ebenso grobe Fehler, aber manches was als Verstoß gegen die Statuten von irgendwas zählt, ist in Wirklichkeit eine kleine Revolution. Alkohol, Säure-, Tannin-, Zuckerwerte etc. sind eben nicht alles.

Am Ende bleibt nur eines. Man muss anfangen, Weinbeschreibungen wie Codes zu lesen. Am Anfang meiner "Karriere" habe ich ziemlich blindlings tollen Beschreibungen geglaubt. Wenn heute irgendwo "Paprika" zu lesen ist, kann ich das Buch gleich schließen. Ähnliches gilt bei mit für "vollmundig" oder "starkes Rückrat". Aber wie bei Arbeitnehmern auch, macht man sich besser ein eigenes Bild.

Aber das ist natürlich ein teures Verfahren :cry:


Grüße,

wolf
„Es war viel mehr.“

Johnny Depp dementiert, 30.000 Dollar im Monat für Alkohol ausgegeben zu haben. (Quelle: „B.Z.“)
Offline
Benutzeravatar

pivu

  • Beiträge: 370
  • Registriert: Mi 3. Nov 2010, 10:48
  • Wohnort: Frankfurt & Wien

Re: (Ãœber)vorsichtige Weinbeschreibungen

BeitragDo 30. Dez 2010, 19:59

Hallo Wolf,
innauen hat geschrieben: Punkt 1) Zwischen Kritikern und Winzern gibt es ebenfalls ein Näheverhältnis. Spätestens im nächsten Jahrgang sieht man sich wieder.

na und, das lasse ich nicht gelten, das gibt's überall woanders auch, im Sport, in der Kultur, etc.. Das ist dann nichts anderes als "Tu mir nix" (keine bösen Worte), dann "tu ich dir nix" (kriegst auch nächstes Jahr wieder Wein). Wie ich vorhin schon erwähnt habe, finde ich das hochgradig unseriös und eine Vera... des Konsumenten, die leider noch immer allzu häufig kritiklos an der Schreibe von Parker & Co hängen. Dann kann der Winzer (oder ein sprachlich Talentierter in seinem Umfeld) seinen Wein gleich selbst beschreiben.

Man sollte einander respektieren und ehrlich miteinander umgehen. Ich selbst hab' z.B. vor einiger Zeit für einen der führenden Weinguides einen Wein, der als "heilige Kuh" gilt und tatsächlich anderswo zum Jahrgangsbesten gekürt wurde, nach bestem Wissen und Gewissen (wesentlich) tiefer bewertet. Deshalb kann ich trotzdem dem Winzer in die Augen schauen und er mir auch, solange ich ihm meine Gründe offenlege und den Wein entsprechend beschreibe. (Dass er als Konsequenz im aktuellen Führer nicht dabei ist, ist eine andere Geschichte und zeugt ein bissl von gekränkter Eitelkeit.)

Ciao
Peter
Zuletzt geändert von pivu am Fr 31. Dez 2010, 12:13, insgesamt 1-mal geändert.
Offline
Benutzeravatar

innauen

  • Beiträge: 3504
  • Bilder: 8
  • Registriert: Mi 3. Nov 2010, 12:33
  • Wohnort: Berlin

Re: (Ãœber)vorsichtige Weinbeschreibungen

BeitragDo 30. Dez 2010, 20:59

pivu hat geschrieben: (Dass er als Konsequenz im aktuellen Führer nicht dabei ist, ist eine andere Geschichte und zeugt ein bissl von gekränkter Eitelkeit.)

Ciao
Peter


Das ist genau der Unterschied zu anonymen Tests á la Stiftung Warentest. Überall wo es Nähebeziehungen und keine objektiv greifbaren Kriterien gibt, greift eine - auch schon präventive - gegenseitige Vorsicht. Es sind die Ausnahmen, die die Regel nur bestätigen.

Grüße,

wolf
„Es war viel mehr.“

Johnny Depp dementiert, 30.000 Dollar im Monat für Alkohol ausgegeben zu haben. (Quelle: „B.Z.“)
VorherigeNächste

Zurück zu Bewertungssysteme und Weinbeschreibungen

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 23 Gäste

Impressum - Nutzungsbedingungen - Datenschutzrichtlinie - Das Team - Alle Cookies des Boards löschen