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(Ãœber)vorsichtige Weinbeschreibungen

Sterne, Punkte, Trauben - oder Obstkörbe
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Gerald

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(Ãœber)vorsichtige Weinbeschreibungen

BeitragMi 29. Dez 2010, 10:49

Hallo,

ich habe immer öfter den Eindruck, dass - nicht nur, aber vor allem - Profis bei ihren Weinbeschreibungen krampfhaft jedes Wort vermeiden, das negativ ausgelegt werden könnte, selbst wenn es im Kontext gar kein Problem darstellen würde. Wenn der Wein einen kleinen Makel hat, wird dieser - so mein Eindruck - einfach nicht weiter erwähnt, sondern nur die positiven Aspekte beschrieben. Mit Makel meine ich jetzt nicht grobe Weinfehler, sondern z.B. leichte Bitternoten, unharmonisch-schale Noten oder auch unharmonische Säure (zu wenig oder aber beißend/kratzend).

Die eigentliche Abwertung findet dann nur mehr über die Punkte statt, weshalb man in dieser Situation auch gar nicht auf diese verzichten könnte.

Ist das nur mein persönlicher Eindruck oder habt ihr auch schon Ähnliches gedacht? Und - wenn ja: ist das eigentlich sinnvoll?

Grüße,
Gerald
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pivu

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Re: (Ãœber)vorsichtige Weinbeschreibungen

BeitragMi 29. Dez 2010, 11:23

Hallo Gerald,

grundsätzlich hast Du Recht, obwohl es schon welche gibt, die "Ross und Reiter" nennen, ich zähle mich da auch dazu. Und wenn Du beispielsweise an die Glosse um Pavie 03 denkst, kannst Du Mrs. Robinson sicher nicht vorwerfen, ein Blatt vor dem Mund genommen zu haben.

Das Phänomen liegt für mich in der Angst begründet: Angst, es sich mit jemanden zu verderben, Angst einer unpopulären Fehleinschätzung, die einen in der Brache angreifbar macht, und die mitunter ein juristisches Nachspiel haben kann. Und diese Angst haben fast alle deutschsprachigen Weinkritiker. Als lobendes Beispiel fällt mir da Marcus Hofschuster (wein+) ein, dessen Einschätzungen allerdings an Bedeutung verlieren, weil viele Betriebe nicht mehr bewertet werden (dürfen), was schade ist. Und Stuart Pigott, der auch immer wieder kritische Worte findet. Beide polarisieren in der Masse der Me-too Kritiker. Aber gerade die Stars der Szene, wie Broadbent oder Robinson, brauchen nichts beschönigen. Genausowenig die immer bedeutender werdende Masse an Weinfreaks in den Weiten des Internets, solange sie sich fair an die Spielregeln hält.

Ciao
Peter
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Gerald

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Re: (Ãœber)vorsichtige Weinbeschreibungen

BeitragMi 29. Dez 2010, 11:34

Hallo Peter,

Angst, es sich mit jemanden zu verderben, Angst einer unpopulären Fehleinschätzung, die einen in der Brache angreifbar macht, und die mitunter ein juristisches Nachspiel haben kann.


schon klar, nur verstehe ich nicht, warum man das vermeiden können sollte, wenn man das Problem nicht in Worten beschreibt, sondern einfach weniger Punkte vergibt. Der Winzer ist trotzdem verärgert und der Leser der VKN weiß nicht, was den Verkoster eigentlich am Wein gestört hat. So gesehen eine lose-lose-Situation :( Meiner Ansicht nach ist eine solche VKN ja eigentlich nutzlos, wenn bestimmte Aspekte einfach unter den Tisch gekehrt werden.

Und dass z.B. beim Falstaff-Guide einige sehr angesehene Winzer nicht mehr einreichen, da sie sich nicht verstanden fühlen, hat meiner Meinung nach nicht mit dem Text der VKN zu tun, sondern mit den niedrigen Punktezahlen, oder?

Grüße,
Gerald
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pivu

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Re: (Ãœber)vorsichtige Weinbeschreibungen

BeitragMi 29. Dez 2010, 11:54

Hallo Gerald,

ok, dann meinst Du doch was anderes. Hast Du ein konkretes Beispiel (gerne von Peter Moser ...)? 2 Dinge fallen mir als Ursache sofort ein: die mangelnde Fähigkeit, Wein hinreichend, eindeutig und wiederkennbar zu beschreiben (wer kann das schon ...?), und zu wenig Zeit und Muße, sich mit dem zu verkostenden Wein zu beschäftigen. Auch mit diesem Phänomen hab' ich mich in Teil 6 meiner kleinen Serie über "Punktewahnsinn" beschäftigt. (Ich darf mich zitieren: "Zum beliebigen, opportunistischen Punkteverteilen gesellt sich ein noch viel beliebigeres, armseliges Worteverteilen, was immerhin zu einem zweidimensional digitalen Geschmack selbsternannter Weinexperten führt.")

Ciao
Peter
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Gerald

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Re: (Ãœber)vorsichtige Weinbeschreibungen

BeitragMi 29. Dez 2010, 12:02

Hallo Peter,

ich habe die Falstaff-Guides leider nicht bei der Hand. Ich glaube mich aber erinnern zu können, dass z.B. die Moric-Weine nie negativ beschrieben wurden, aber einfach wesentlich weniger Punkte als - aus Sicht von Roland Velich - viel bescheidenere, aber evtl. vordergründigere Weine bekommen haben. Das Resultat ist das Gleiche: die Weine werden nicht mehr zur Verkostung eingereicht.

Im übrigen wurde mir persönlich schon von einem Profi-Verkoster bestätigt, dass er die VKN grundsätzlich immer positiv formuliert. Trotzdem vergibt er sehr unterschiedliche Punkte ...

Grüße,
Gerald
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Dionisos

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Re: (Ãœber)vorsichtige Weinbeschreibungen

BeitragDo 30. Dez 2010, 00:38

Gerald hat geschrieben:Ist das nur mein persönlicher Eindruck oder habt ihr auch schon Ähnliches gedacht? Und - wenn ja: ist das eigentlich sinnvoll?

Grüße,
Gerald


Hallo Gerald,

den gleichen Eindruck habe ich auch und ich empfinde es als Tatsache, daß Punkte in der Range 90-93 viel zu inflationär vergeben werden, wenn man davon ausgeht, daß dies sehr gute bis besonders gute Weine auf der Bewertungsskala sein sollen. Vieles, was da so mit um die 90 Punkte durch die Gegend schwirrt, empfinde ich eher als gewöhnlich gut (also eher 80-85 Punkte) .

Dagegen kommen Bewertungen unter 80 Punkten extrem selten vor. Lieber verzichtet man dann ganz auf eine Bewertung. Insofern stellt sich natürlich die Frage nach dem Sinn von solchen Bewertungen, wenn der Bias deutlich positiv ist und schlechte Weine nicht beim Namen genannt werden.

Das Umfeld ist natürlich auch für Bewerter, die unabhängig und neutral sein wollen, schwierig, da man sich juristisch auf Glatteis begibt.
Das Leben ist zu kurz um schlechten Wein zu trinken.
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weinfidél

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Re: (Ãœber)vorsichtige Weinbeschreibungen

BeitragDo 30. Dez 2010, 01:52

Hi Gerald,
Gerald hat geschrieben:... z.B. die Moric-Weine nie negativ beschrieben wurden, aber einfach wesentlich weniger Punkte als - aus Sicht von Roland Velich - viel bescheidenere, aber evtl. vordergründigere Weine bekommen haben. Das Resultat ist das Gleiche: die Weine werden nicht mehr zur Verkostung eingereicht.
...Grüße, Gerald

nein (!), damit alleine hat das nun wirklich nichts zu tun. Da geht's um elementare Sachen, sicher nicht um Punkte oder Bewertungen. Auf diese ist Roland nämlich nicht (mehr) wirklich angewiesen, wenn Du mal seine mittlerweile schon fast zementierte Beachtung international anschaust. Und, wie ich das sehe, haben sich da ein paar alte Promi-Schurnis schon fast k.u.k.-mäßig... "festgefahren". Sicher, hohe Punkte, tolle Bewertungen sind schön, insbesondere dann, wenn man ein "no name" ist. Das alleine reicht aber eben auch nicht, wie, jetzt auf's Eingangsthema zurückkommend, z.B. hier zu lesen ist...:http://www.weinkenner.de/wein-news/2004-rioja-reserva-amaren.html

fidélst
Rico
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Gerald

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Re: (Ãœber)vorsichtige Weinbeschreibungen

BeitragDo 30. Dez 2010, 09:20

Hallo Rico,

das mit Moric war nur ein schnell eingeworfenes Beispiel, mag sein dass es nicht perfekt die konkrete Frage wiederspiegelt. Obwohl er - wie im Interview auf seiner Webseite nachzulesen ist - ja meint:

Bei Blindverkostungen werden in der Regel Weine eines derzeit gängigen Stils bevorzugt, der auf Alkoholeinsatz, Intensität von Toasting und neuem Holz, insgesamt auf Opulenz, Wucht und Kraft aufbaut. Raffinesse verliert bei Blindverkostungen immer.


So wie ich das "...verliert..." verstehe, geht es ja auch da um schlechte Bewertungen, oder?

Hat aber jetzt zugegebenermaßen nicht mehr so viel mit der Eingangsfrage zu tun, nämlich wie sinnvoll es ist, ob ein Verkoster, wenn er mit einem Wein nicht zu 100% glücklich ist, das jetzt im Text ausdrückt oder aber nur in den Punkten - während im Text eigentlich alles in Ordnung zu sein scheint.

Grüße,
Gerald
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WoFu

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Re: (Ãœber)vorsichtige Weinbeschreibungen

BeitragDo 30. Dez 2010, 10:57

Moin, moin,

ohne jetzt Beispiele konkret benennen zu können: Ich glaube, daß die Vermeidung negativer Begriffe ziemlich ein Allgemeingut ist bzw. immer mehr wird, Weinbewertungen sind nur ein Teilbereich. Denkt z. B. an die schon jahrzehntelange Übung der Zeugnisschreibung, es darf nichts Negatives drinn stehen, ansonsten ist der Arbeitgeber zur Verbesserung verpflichtet. Dann gibt es die Codeworte, um zwischen den Zeilen etwas zu kritisieren; bei Schulzeugnissen ist eine negative schriftliche Beschreibung des abgelaufenen Jahres auch nicht mehr gesellschaftsfähig; in der Werbung wird Negatives gern positiv verkleidet, als Beispiel mögen hier Hotel- oder Ferienhausbeschreibungen gelten "verkehrsgünstige Lage" oder "lebhafte Umgebung", Ähnliches gilt für Wohnungen/Häuser. Alles ist heute super, toll oder besser...

Da braucht man sich nicht wirklich wundern, wenn auch Weinkritik entweder positiv oder ganz ausfällt. Der Kritiker möchte doch gern alle Weine, vor allem der besseren Winzer, Jahr für Jahr für Proben wieder angestellt bekommen. Zum Einen für das eigene Wohlbefinden, wer liest schon Kritiker die nur Weine aus der zweiten oder dritten Reihe beschreiben, zum Anderen bleibt ja mal die eine oder andere Probeflasche zum wirklichen Trinken oder Verschenken übrig.

Die Basiskritik der Internetgemeinde kann dabei schon kritischer ausfallen, muß aber nicht, je nachdem, welche Intention der Schreiber verfolgt. Subjektivität und kaum vorhandene objektive Kriterien kommen natürlich bei einer Geschmacksbeschreibung und Zukunftseinschätzung dazu.

Es ist doch der große Vorteil des wwws, daß wir jetzt ohne uns anzustrengen oder gar viel Geld für dicke Bücher auszugeben, fast tagaktuelle Verkostungsnotizen weltweit abrufen und vergleichen können, dazu hat das Netz ein langes Gedächtnis, was ich z. B. bei weinplus liebe und immer man wieder nach Beschreibungen älterer Jahrgänge schaue.

Man darf das alles nicht zu verbissen sehen und für mich werden Weinkritiken immer weniger ausschlaggebend.

Trotz alledem: Schöne Weingenüsse bei guter Gesundheit im nächsten Jahr wünscht

Wolfgang
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pivu

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Re: (Ãœber)vorsichtige Weinbeschreibungen

BeitragDo 30. Dez 2010, 11:17

Hallo Wolfgang,

es ist eben nicht so, dass alles überall nur positiv dargestellt wird. (Eine Flasche Wein hat wohl auch eine andere Wertigkeit als ein gerade freigesetzter Arbeitnehmer, wo andere Maßstäbe gelten.) Denk' nur an manche Restaurantkritik oder, noch besser, Theater- und Konzertkritiken. Es geht also, obwohl ich manchmal den Eindruck habe, dass ins Negative übertrieben wird. Ich sehe keinen Grund, warum ein Weinkritiker, der ernst genommen werden will, nicht das schreiben soll, was er schmeckt und letztendlich auch bewertet. Alles andere ist unseriös.

Ciao
Peter
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