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Quantifizierbarkeit von Weinqualität

Sterne, Punkte, Trauben - oder Obstkörbe
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sorgenbrecher

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Re: Quantifizierbarkeit von Weinqualität

BeitragFr 12. Okt 2012, 15:43

weingenuss in punkte zu kleiden halte ich weiterhin für unsinn und das erzeugt eine scheingenauigkeit, die dem produkt nicht gerecht wird. trotzdem wird sich wohl niemand ganz vom einfluss der punkte frei machen können, aber es hilft eben schon sehr, wenn man die erheblichen ungenauigkeiten kennt und berücksichtigen kann.

in doppelblind-proben habe ich schon häufiger ein und denselben wein aus der identischen flasche zweimal angestellt und kaum jemals hat jemand den wein als identisch erkannt oder die gleiche punktzahl gegeben wenn mehr als 6 Weine verkostet wurden....
Gruß, Marko.
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mixalhs

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Re: Quantifizierbarkeit von Weinqualität

BeitragFr 12. Okt 2012, 16:04

Das Folgende mutet vielleicht etwas skurril an, aber ich vermute, dass das im richtigen Leben bei Weinverkostungen durchaus vorkommt: Arrows Paradoxon.

Nehmen wir drei Verkoster, 1, 2 und 3, und drei Weine, A, B, und C. Wenn die Verkoster unterschiedliche Vorstellungen darüber haben, wie die Weine zu bewerten sind, kann Folgendes passieren.

Verkoster 1: A>B>C,
Verkoster 2: B>C>A,
Verkoster 3: C>A>B,

wobei ">" für "gefällt mir besser als" steht. Ohne kardinale Bewertung (Punkte) muss jetzt die Mehrheit entscheiden, welcher Wein der beste ist. Aus den obigen Einzelrangfolgen ergibt sich.

2 von 3 Verkostern finden A besser als B.
2 von 3 Verkostern finden B besser als C.
2 von 3 Verkostern finden C besser als A.

Upps! Das widerspricht sich ja.

Kenneth Arrow, späterer Okonomienobelpreisträger, hat 1951 herausgefunden, dass hier - über diesen Spezialfall hinaus - ein generelles Problem besteht, wenn man individuelle Präferenzen zu einem Gesamtresultat aggregieren möchte. Das gilt auch für Weinproben. Durch Punktewertungen wird das Problem "weggebügelt".
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Ollie

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Re: Quantifizierbarkeit von Weinqualität

BeitragFr 12. Okt 2012, 16:37

Hmmm. Eine Grundannahme von Arrow, man sei stets in der Lage, seine Praeferenz zu nennen, ist nicht unbedingt gegeben. "Stets" bedeutet hier nicht "immer, wenn ich gefragt werde, kann ich meine Praeferenzen nennen", sondern "meine Praeferenzen sind stets gleich" (im Sinne einer Messgenauigkeit, die hinreichend gut ist, um Praeferenzen eindeutig zu halten).

Bevor man also Ranglisten z.B. aus Punktelisten aggregiert, muss man eine Verteilungsfunktion der Einzelwertungen hernehmen und damit verschiedene Ranglisten realisieren (etwa durch Monte-Carlo-Simulationen). Diese Verteilungsfunktionen muss man entweder ansetzen oder am Tester "messen". Typischerweise kommt dann sigma~2 heraus (spread also in der Ecke 6), was bedeutet "Ich kann meine Wertungen oft auf einen Punkt genau reproduzieren" (wobei "oft" unbefriedigend selten heisst).

Ein etwas subtilerer Effekt: Bei Ranglisten hat man den Freiheitsgrad des offsets explizit nicht, bei Punkteliste aber glaubt man ihn zu haben - bis man die Daten normalisieren muss, damit man sie auswerten kann. Damit rechnet man den offset wieder heraus. Weiterhin koennte man dann genausogut eine (nicht)lineare Funktion statt eines konstanten offsets annehmen, um Skalenkompression usw. herauszurechnen. Und dann wird's bloed, weil free-parameter heaven.

Punkte loesen also das Problem nicht, sondern erzeugen nur ein falsches Gefuehl von Praezision.

Cheers,
Ollie
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Gerald

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Re: Quantifizierbarkeit von Weinqualität

BeitragFr 12. Okt 2012, 17:36

Eine Grundannahme von Arrow, man sei stets in der Lage, seine Praeferenz zu nennen, ist nicht unbedingt gegeben.


schon richtig, aber diese Annahme wird ja auch in der Haushaltstheorie der Mikroökonomie getroffen - und die Aussagen passen im Großen und Ganzen schon mit der Realität zusammen.

Wenn man die "Intervallskala" (oder sogar Rationalskala?) der Punktevergabe und der direkten Vergleichbarkeit auf das tägliche Leben erweitert, könnte man dann auch zu Aussagen kommen wie "ich habe den Kuchen alleine gegessen, denn er schmeckt mir viel besser als dir". ;)

Oder man muss das Wahlrecht reformieren: man gibt nicht ein Kreuz seiner bevorzugten Partei, sondern gibt jeder wahlwerbenden Gruppe 0-100 Punkte und die Punkte werden am Ende summiert ...

Grüße,
Gerald
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Ollie

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Re: Quantifizierbarkeit von Weinqualität

BeitragFr 12. Okt 2012, 18:07

OK, gemeint hatte ich, dass Arrow nicht auf Weinverkostungen anwendbar sei, wegen der Unschaerfen. Stimmt natuerlich nicht. Arrow ist sehr wohl anwendbar, aber erst nachdem Unschaerfen beseitigt wurden, derart, dass eine eindeutige Relation mit ">" oder "=" hergestellt werden kann. Da man also sowieso einen Satz statistischer Betrachtungen braucht, um die Unschaerfen ("Messungenauigkeiten") zu entfernen, kann man sich am Ende Arrow schenken. Fuer alle praktischen Zwecke gibt's dann naemlich eine 5-Punkte-gerasterte Skala. Weil eh nur das Intervall [80;100] relevant ist, also 0 bis 5 Sternchen fuer =<80, 81-85, 86-90, 91-95, 96-100. Also: anwendbar ja, sinnvoll nein. :lol:

Cheers,
Ollie
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Charlie

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Re: Quantifizierbarkeit von Weinqualität

BeitragMo 15. Okt 2012, 13:07

Haben Juroren etwa bei Tanzwettkämpfen nicht das gleiche Problem?
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mixalhs

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JLF-Test

BeitragSo 21. Okt 2012, 10:57

Eine Alternative zu professionellen und semi-professionellen Verkostungen, der JLF-Test, der von der Zeitschrift Merum mit den Epitheta "profan, genussorientiert und nahezu unfehlbar" propagiert wird:

Je leerer die Flasche, desto besser der Wein. http://www.merum.info/pagine/de/dettaglio.lasso?id=149

Die Weine werden in kleine Quantitäten vorverkostet. Dann gibt's ein gutes Essen, jeder bedient sich nach Herzenslust beim Wein, und am Schluss des Abends wird gemessen: Je leerer die Flasche, desto ... Dabei wird die Qualität in Zentimetern gemessen.

Vorteile: (1) macht mehr Spaß als das Schlürfen und Spucken bei konventionellen Weinproben und ist (2) durchaus aussagekräftig, was die Trinkigkeit der Weine angeht

Nachteile: Bewertungen hängen (1) vom Essen ab, zu dem nicht unbedingt der "beste" Wein auch am besten passt, (2) von der Zahl der teilnehmenden Personen und (3) von der Zusammensetzung der Runde, insbesondere von der Trinkfestigkeit der TeilnehmerInnen: Einzelne "Suffköppe" mit speziellen Vorlieben können das Ergebnis deutlich verzerren.

Wenn Merum solche Tests macht, gewinnen oft die einfacheren Weine, z.B. trinkige Chiantis, statt der komplexen Brunelli oder Vini da Tavola. Ich werd's im Dezember mal ausprobieren, nicht mit Profis, sondern mit unverbildeten Amateuren, und werde darüber berichten.

Hat im Forum jemand Erfahrungen mit dem JLF-Test?
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Gerald

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Re: Quantifizierbarkeit von Weinqualität

BeitragMi 12. Dez 2012, 08:00

In einem sehr interessanten und launigen Artikel hat der Autor das Vorkommen bestimmter Geruchs- und Geschmacksassoziationen in VKN mit dem Preis des Weins verglichen und festgestellt, dass es ein typisches Vokabular für teure und ein anderes für preisgünstige Weine gibt. Ob das am Wein selbst liegt oder nur persönlicher Ausdruck des VKN-Autors ist, mit dem er die "Wertigkeit" des Weins durch das jeweilige Vokabular auch ohne Punkte etc. betonen möchte?

http://www.slate.com/articles/life/drin ... lfish.html

So gesehen auch irgendwie ein Plädoyer gegen die Obstkörbe in VKN, bei der man sich - je nachdem ob der Wein insgesamt für hochwertig oder eher einfach eingestuft wird - für ein und dasselbe Aroma entweder die "Allerweltsfrucht" heranzieht oder aber eine exklusive, hierzulande nur ganz selten zu bekommende Tropenfrucht, die der "foodhunter" erst vor wenigen Monaten im unzugänglichen Bergwald von Yunnan aufgestöbert hat ...

Grüße,
Gerald

P.S. Und er hat auch richtig festgestellt, dass Graphit keinerlei Geruch hat. Trotzdem findet sich diese Bezeichnung in vielen VKN (alle von Parker abgeschrieben?). Vermutlich ist damit das "Zedernholz" (laut Wikipedia eigentlich das Holz des Virginischen Wacholders?) im Bleistift gemeint.
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nougat

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Re: Quantifizierbarkeit von Weinqualität

BeitragMi 12. Dez 2012, 12:39

Sehr schöner Artikel. Erinnert mich an die esoterischen Hirnis in Hifi-Magazinen, die ein eigenes Vokabular von blumigen sog. 'Klangbeschreibungen' für teures und günstiges Equipment haben

Gerald hat geschrieben:P.S. Und er hat auch richtig festgestellt, dass Graphit keinerlei Geruch hat. Trotzdem findet sich diese Bezeichnung in vielen VKN (alle von Parker abgeschrieben?). Vermutlich ist damit das "Zedernholz" (laut Wikipedia eigentlich das Holz des Virginischen Wacholders?) im Bleistift gemeint.


Man könnte sich fragen, ob eine Assoziation überhaupt einem natürlichen Äquivalent entsprechen muss. JR bekennt z.B. dass sie den Begriff 'Graphit' nutze, obwohl sie noch nie an einem Bleistift gelutscht hätte. Ihr käme es allein auf den Wiedererkennungswert an. Schreibt sie in einem Verkostungsbuch. In ihren VKN finde ich aber meist "cedar" :roll:
Grüße
Martin

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octopussy

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Re: Quantifizierbarkeit von Weinqualität

BeitragSo 16. Dez 2012, 16:23

Auch ich habe den Artikel mit großem Vergnügen gelesen. Die "Bullshit-Parade" bei Weinverkostungsnotizen lässt sich m.E. aber kaum vermeiden. Ich bin selber nicht frei von der Verwendung gewollt exotischer oder abgedroschener Begriffe. Vieles ist im Zweifel auch Autosuggestion wie z.B. das "Zedernholz" bei St. Julien, die "Zigarrenkiste" bei Pessac-Léognan, das "sous-bois" bei gereiften Burgundern, der "Teer" im Barolo oder der "weiße Pfeffer" im Grünen Veltliner. Sicher duften mehr Pessac-Léognans nach Zigarrenkiste als kalifornische Merlots, aber wenn man etwas riechen möchte, dann riecht man es auch. Davon kann sich wahrscheinlich niemand frei machen, nicht einmal die Profiverkoster. Auf der anderen Seite sind manchmal Blindverkostungen sehr erkenntnisreich. So hielt ich jahrelang die "Erdbeersahne" in den Rieslingen aus Erden für ausgemachten Bullshit, bis ich diese blind auch ein, zwei Mal gerochen habe, ohne zu wissen, dass ein Riesling aus Erden im Glas sein könnte.

Die häufigere Verwendung etwas vornehmerer Begriffe für teurere Weine halte ich auch für erklärbar außerhalb der Begründung, dass man sich vom Preis leiten lässt. So ist ein preisgünstiger Wein häufig (nicht immer) einfach nicht sonderlich tief in der Aromatik und lässt sich so eher als "frisch", "sauber" o.ä. beschreiben. Gerade bei den Weinen, die eher auf Masse produziert werden, habe ich häufig einfach nur die Assoziation an "Weißwein" oder "Rotwein". Neulich war ich zum Essen eingeladen. Zur Vorspeise gab es einen 2011 Cecchi Vernaccia di San Giminano und zum Hauptgericht einen 2009 Vino Nobile di Montepulciano (Erzeuger nicht gemerkt). Gerade der Vernaccia di San Giminano roch und schmeckte einfach nur nach einem fehlerfrei vinifizierten frischen Weißwein. Was soll man da groß mit Litschi oder anderen Früchten hantieren? Ich kann da nichts dergleichen riechen, auch wenn ich mich bemühe.

Ich kann eigentlich ganz gut mit dem "Bullshit"-Vokabular für Verkostungsnotizen leben.
Beste Grüße, Stephan
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