Sa 1. Okt 2022, 14:18
Lieber Oswald,
ich höre schon aus der Ferne die Sirene der herannahenden Weinsprachpolizei. Den Schlagstock griffbereit, wird sie Präzisierung anmahnen, und das kann doch alles gar nicht so sein, und solche Begriffe in diesen Kontexten gehen doch gar nicht und was nimmt man denn da bloß wahr?!?!
Jeder Philologe weiß, dass Worte in aller Regel eine Denotation und eine Konnotation haben, und sie haben häufig vor allem die wunderschöne Eigenschaft, metaphorisch verwendet werden zu können. Geschieht das gekonnt, wird Sprache lyrisch. Aber während die einen mit Lyrik gar nichts anfangen können (das versteht doch kein Mensch, was ist das nur für ein Geschwurbel, kann man sich nicht klar äußern?!?!), ist für die anderen Lyrik die höchste Form sprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten.
Unterfüttert man das Ganze noch mit konstruktivistischen Annahmen, dann gibt es sowieso nicht den betrachterunabhängigen Geschmack eines Weins, sondern nur noch die an Person, Zeit, Ort und Sprache gekoppelte perspektivische Wahrnehmung.
Ist diese so formuliert, dass sie mir über das schnöde Bestimmen stereotyper und nur vermeintlich objektiver Versatzstücke hinaus ermöglicht, das Innenleben des Betrachters nachzuvollziehen, der gerade einen Wein trinkt, vielleicht sogar seine Begeisterung oder sein Überwältigtsein, gerne auch mal seine Abneigung, dann lese ich sie mit größter Freude, weil sie in mir etwas auslösen kann, was sonst eben nur der Wein selbst tut.
Lange Rede kurzer Sinn: Ob Tannine naturwissenschaftlich, im engeren Sinne chemisch, "schmelzen" können, interessiert mich persönlich nicht die Bohne, "wie es zu dieser Formulierung gekommen ist", scheint mir jedoch völlig klar zu sein. Da hat jemand eine wunderbare Metapher benutzt, um etwas auszudrücken, das wir alle wahrscheinlich kennen und lieben, aber jeder wahrscheinlich auf seine Weise.
Zuletzt geändert von
Michl am Sa 1. Okt 2022, 18:42, insgesamt 1-mal geändert.