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Was Sie schon immer über Wein wissen wollten, aber nie zu fragen wagten
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Tannine schmelzen

Sa 1. Okt 2022, 13:15

Wieso „schmelzen” Tannine eigentlich? Schmelzen steht doch für den Übergang vom festen in den flüssigen Aggregatzustand. Ich habe schon verstanden, was bei einer Verkostungsnotiz damit gesagt werden soll, aber mich immer gefragt, wie es zu dieser Formulierung gekommen ist.

Gruß
Oswald

Re: Tannine schmelzen

Sa 1. Okt 2022, 14:05

Ein sprachliches Bild - wie so viele, derer man sich in der Weinbeschreibung bedient.

Ich denke bei Tannin in Jungweinen häufig an eine Art Eisblock: hart, eckig, kantig, auch mal rauh. Und mit der Lagerung "schmilzt" dieser Eisblock dann ab - die Kanten werden weicher, die Oberfläche flüssiger und weniger rauh, die ganze Struktur lockert sich auf. Und irgendwann ist dieser Block dann ganz abgeschmolzen.

Wie gesagt: nur ein Bild, eine Analogie, eine Hilfskonstruktion - mehr nicht. Wie so viele Bilder: wenn von "rauchiger Mineralität" die Rede ist, sind da weder Rauch noch Mineralien im Wein. Man kann aber schon verstehen, was da gemeint ist. Wenn man will.

Gruß
Ulli

Re: Tannine schmelzen

Sa 1. Okt 2022, 14:18

Lieber Oswald,

ich höre schon aus der Ferne die Sirene der herannahenden Weinsprachpolizei. Den Schlagstock griffbereit, wird sie Präzisierung anmahnen, und das kann doch alles gar nicht so sein, und solche Begriffe in diesen Kontexten gehen doch gar nicht und was nimmt man denn da bloß wahr?!?!
Jeder Philologe weiß, dass Worte in aller Regel eine Denotation und eine Konnotation haben, und sie haben häufig vor allem die wunderschöne Eigenschaft, metaphorisch verwendet werden zu können. Geschieht das gekonnt, wird Sprache lyrisch. Aber während die einen mit Lyrik gar nichts anfangen können (das versteht doch kein Mensch, was ist das nur für ein Geschwurbel, kann man sich nicht klar äußern?!?!), ist für die anderen Lyrik die höchste Form sprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten.
Unterfüttert man das Ganze noch mit konstruktivistischen Annahmen, dann gibt es sowieso nicht den betrachterunabhängigen Geschmack eines Weins, sondern nur noch die an Person, Zeit, Ort und Sprache gekoppelte perspektivische Wahrnehmung.
Ist diese so formuliert, dass sie mir über das schnöde Bestimmen stereotyper und nur vermeintlich objektiver Versatzstücke hinaus ermöglicht, das Innenleben des Betrachters nachzuvollziehen, der gerade einen Wein trinkt, vielleicht sogar seine Begeisterung oder sein Überwältigtsein, gerne auch mal seine Abneigung, dann lese ich sie mit größter Freude, weil sie in mir etwas auslösen kann, was sonst eben nur der Wein selbst tut.
Lange Rede kurzer Sinn: Ob Tannine naturwissenschaftlich, im engeren Sinne chemisch, "schmelzen" können, interessiert mich persönlich nicht die Bohne, "wie es zu dieser Formulierung gekommen ist", scheint mir jedoch völlig klar zu sein. Da hat jemand eine wunderbare Metapher benutzt, um etwas auszudrücken, das wir alle wahrscheinlich kennen und lieben, aber jeder wahrscheinlich auf seine Weise.
Zuletzt geändert von Michl am Sa 1. Okt 2022, 18:42, insgesamt 1-mal geändert.

Re: Tannine schmelzen

Sa 1. Okt 2022, 14:18

Kreuzpost mit Ulli +1

Re: Tannine schmelzen

Sa 1. Okt 2022, 15:00

Michl hat geschrieben:ich höre schon aus der Ferne die Sirene der herannahenden Weinsprachpolizei. Den Schlagstock griffbereit,
Iwo. Wenn es die gäbe, wäre die sicher schon längst bei Erichs gelegentlich schräg anmutenden Assoziationen eingeschritten :D
Ich wollte einfach nur wissen, ob der Formulierung ein physikalischer Vorgang zugrunde liegen könnte. Das habt ihr ja nun geklärt. Danke!

Gruß
Oswald

Re: Tannine schmelzen

Sa 1. Okt 2022, 16:01

OsCor hat geschrieben:Das habt ihr ja nun geklärt.


...und zwar sprachlich ganz wunderbar!
Ein Lesegenuss!
Danke :)

Re: Tannine schmelzen

Sa 1. Okt 2022, 16:57

OsCor hat geschrieben:wäre die sicher schon längst bei Erichs gelegentlich schräg anmutenden Assoziationen eingeschritten :D
...je schräger der Wein, desto schräger die Beschreibung! :ugeek: :mrgreen:
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