Alte Bordeaux in Marburg

Anfang Februar zog es 14 Weinnasen in die Nähe von Marburg, um gemeinsam eine ganze Phalanx alter Kameraden auf Herz und Nieren zu prüfen. An dieser Stelle erstmal herzlichsten Dank an unseren Gastgeber, der dieses Event nicht nur perfekt organsiert, sondern auch mehr als fair kalkuliert hatte. Ein Extra-Dankeschön auch an die Dame des Hauses - von der Nuss-Torte zu den Süßweinen träume ich noch heute. Es zeigte sich mal wieder, dass viele Altweine deutlich mehr Spaß machen, als man es über Punkte audrücken könnte und, dass Totgesagte länger leben. Wer auch abseits der großen Jahre und Erzeuger sucht, hat gute Chancen auf positive Überraschungen zu vertretbaren Kursen. Und wenn der Wein am Gaumen auch schon etwas gezehrt wirkt, sorgt ein passendes Essen dazu für ein feines Genuss-Erlebnis.
Los ging es gleich mit einem Paukenschlag, der erstmal für demütige Stille am Tisch sorgte... Doch vor dem Start des eigentlichen Programms gab es noch einen wahrlich respektablen Wein zum avinieren:

Chateau Certan de May 1995
Der Wein wirkt trotz des jugendlichen Alters schon gut angereift und trinkbar, was damit zusammenhängen mag, dass die Flasche schon am Vortag geöffnet worden war. In der Nase viel Pflaume, leicht rosinige Frucht, sehr erdig und ätherisch - fast ein bisschen Barolo-haft. Mit der Zeit im Glas entwickelt sich eine feine MInz-Note. Am Gaumen schöne Dichte, sehr gute Balance. Klasse! (92)

Nun zum "offiziellen" Teil:

Flight 1

Chateau La Mission Haut Brion 1945
Diese Flasche war in zweierlei Hinsicht sehr besonders: zum einen hätte ich nie gedacht, dass ich diesen Tropfen jemals vor die Nase gesetzt bekomme. Zum zweiten handelte es sich hierbei um die zweite Hälfte einer Flasche, die für eine Probe vor zwei Jahren geöffnet worden war. Damals war eben diese zweite Hälfte unter Gas in die Halbe "umgezogen" worden. Und wer meinte, dass bei einem Wein dieses Alters das Ergebnis eine Leiche sein müsse, sah sich derbe getäuscht: relativ helles, zum Rand hin blasser werdendes Rot. Sehr duftig. Zu Beginn Medizinkasten und Erde. Die Nase macht dann aber im Glas spektakulär auf mit wunderbar feiner, rotbeeriger Frucht, tollen Kräuternoten und Tabak. Am Gaumen perfekt reif, noch Reste von Frucht, beeindruckende Länge. Die Nase dreht immer weiter auf und endet in einem würzigen, komplexen, filigranen aber stabilen Traum. Sensationell. (96)

Chateau Haut-Brion 1955
Aus der Halben. Etwas dunkler als der parallel getrunkene 45er La Mission. Etwas eigenwillige, aber unglaublich expressive Nase mit Unmengen von Karamell. Dazu etwas Tabak. Erdig. Am Gaumen großartige Länge. Tragende, stramme aber nicht störende Säure. Ganz leichter Muff, der aber nicht weiter stört. Wunderbar. (94)

Fortsetzung folgt...

Flight 2:

Chateau La Tour Haut Brion 1955
Erkennbar gereiftes aber noch sehr dunkles Rot. Direkt nach dem Einschenken sehr "eigen" Nase. Multivitamin-Saft. Die Nase öffnet sich aber deutlich im Glas und wird immer schöner mit roten Beeren und mineralischen Noten. Am Gaumen balanciert und ohen störende Ecken und Kanten aber etwas flach. (90)

Chateau Grand Puy Lacoste 1955
Deutlich heller als der La Tour Haut Brion. Traumhafte, schlicht und einfach geniale Kaffee-Nase: frischer Latte Machiato. Toffifee. Will sagen: herrlicher Karamell-Duft. Da passt alles in einander. Das ist vielleicht nicht die intellektuell anspruchsvollste Nase, aber viel leckerer geht es für mich nicht mehr. Könnte man diesen Duft industriell auf Flaschen ziehen, man würde mit dem Verkauf an Starbucks Millionen machen. Am Gaumen perfekt reif. Etwas schlank, aber sehr lang. Knackige Säure. (94)

Fortsetzung folgt...

Hallo Oliver,

es gehört stets zu den Highlights, wenn in diesem (aus Gründen der Diskretion nicht namentlich genannten) gastlichen Hause zu Raritätenproben geladen wird. Auch von mir mein herzlicher Dank an unsere Gastgeber für die vorzüglichen Kulinaria und die außergewöhnlichen Weine und an unsere Mitstreiter für die wie immer sehr angenehme Atmosphäre.

Und schließlich danke ich auch Dir Oliver, dass Du die Probe mit solch anschaulichen Beschreibungen hier dokumentierst. Jeder einzelne Wein war an diesem Nachmittag ein Erlebnis und es ist schön, sich das anhand Deiner Notizen wieder in Erinnerung rufen zu können.

Grüße

Hartmut

Halo Harti,

danke für die Blumen . Mache ich gern. Mir ist es auch wichtig, in ein paar Jahren nochmal diese schönen Proben nachlesen zu können...

Flight 3:

Chateau La Tour Haut Brion 1967
Trüb, deutlich dunkler als der 69er. Wunderbar duftige Nase. Malzige, kräuterige Fruchtsüße. Mit der Zeit schöne, belebende Frische incl. leichtem St. Julien-haftem Stinker. Am Gaumen erstaunlich vital. Dicht, balanciert. Gute Länge. Klasse. (92)

Chateau La Tour Haut Brion 1969
Kräuter. Würzig. Wildschwein von hinten. Am Gaumen schlanker als der 67er aber schön zu trinken. (90)

Flight 4:

Vieux Chateau Certan 1985
Sehr dunkle, junge Farbe. Schweissig. Stall. St. Julien? Asche. Zigarrenkiste. Mit der Zeit Eukalyptus. Pessac? Wunderbare Fruchtsüße. Später Zitronat und schwarzer Tee. Erdig. Baut im Glas wunderbar aus. Die Nase ist ein Traum. Am Gaumen tonnenweise Frucht. Dicht, üppig, großartige Länge. Ein Pomerol für Männer mit Reserven für viele Jahre. (94)

Chateau Palmer 1985
Bratensoße! Erbsensuppe mit Speck (sic!). Sehr, sehr eigenwillige aber immerhin charaktervolle Nase. Am Gaumen weniger kraftvoll als der VCC aber trotzdem gut strukuriert und lang. Schöne Balance. Bessere Flaschen mögen höhere Punktzahlen erreichen, wobei mir bisher noch kein 85er Palmer über 90 Punkte wert war. (90)

Fortsetzung folgt...

Chateau Palmer 1985
.... Bessere Flaschen mögen höhere Punktzahlen erreichen, wobei mir bisher noch kein 85er Palmer über 90 Punkte wert war. (90)

ich hatte bisher nur "bessere Flaschen" im Glas

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ich hatte bisher nur "bessere Flaschen" im Glas [/quote]

Weiß ich doch

Vielleicht geht es mir beim 85er Palmer ähnlich wie beim 86er Talbot - die Weine reden einfach nicht mit mir.....

Vielleicht geht es mir beim 85er Palmer ähnlich wie beim 86er Talbot - die Weine reden einfach nicht mit mir.....

Beide Weine finde ich hervorragend. Bin gespannt wie ein Flitzebogen auf den 2001er Serpico, den es am Samstag gibt.

[quote="Jürgen]Bin gespannt wie ein Flitzebogen auf den 2001er Serpico, den es am Samstag gibt.[/quote]

Da bin ich auch gespannt, wie der bei Euch abschneidet. Wie lang wollt Ihr dekantieren?

Flight 5:

Chateau Palmer 1970
Dunkles, volles Rot. Sehr jung wirkende, üppige Nase. Vollreife, dunkle Frucht. Mit der Zeit wird die Nase deutlich kräuterig. Die Frucht wird immer üppiger. Am Gaumen sehr konzentriert. Schlank, aber endlos lang. Wirkt unglaublich jung. Blind habe ich auf einen noch unreifen Boliden aus 1986 getippt. Ein Fläschchen habe ich davon im Keller - da ist wohl keine Eile angesagt. (93+)

Chateau La Tour Haut Brion 1970
Erheblich hellere Farbe als der 70er Palmer. Filigrane aber wunderbar duftige Nase, die sich zögerlich öffnet und immer schöner wird. Ganz leicht Fassnote. Tolle, süße Erdbeerfrucht. Samt und Seide. Am Gaumen eher schlank und nicht mehr ganz auf der Höhe aber durchaus balanciert. (87)

Flight 6:

Chateau Lynch Bages 1961
Schade. Bräunliches, mittel-dichtes Rot. Sehr gereift wirkende Nase. Nasses Laub, Malz, Pilze, Liebstöckel. Entwickelt sich im Glas nicht unbedingt vorteilhaft. Am Gaumen erheblich schöner. Noch schöne Frucht. Tolle Länge. Saftig, schmelzig, gute Struktur. Nase zu und durch! (91)

Chateau Liouner 1959
In der Nase dem Lynch Bages nicht unähnlich. Dazu leichter Fasston. Am Gaumen erstaunlich gut. Und legt im Glas noch zu. Gute Struktur. Lang. (89)

Chateau Liouner 1961
Aus dem Dreier-Flight mit Abstand am frischesten. Sehr schöne Frucht. Dicht. Tolle Nase. Am Gaumen reif, sehr gute Länge und für einen Listrac, den mit Sicherheit ausser unserem Gastgeber so gut wie kein Mensch auf dem Schirm hat, eine sensationelle Performance. (90)

Fortsetzung folgt...

Da bin ich auch gespannt, wie der bei Euch abschneidet. Wie lang wollt Ihr dekantieren?

Was rätst du? Ich rechne mal mit ein paar Stunden.