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Rating der Ratings

Medoc und seine Appellationen, Bourg und Umgebung, Fronsac, Pomerol, Saint Emilion und Umgebung, Entre Deux Mers, Graves und Pessac-Leognan, Sauternes und Co.
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glycosid

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Rating der Ratings

BeitragMi 29. Apr 2015, 22:54

Vor kurzem wurde ich über einen überraschenden Sachverhalt in Sachen Bordeaux-Verkostungs-Benotungen (kurz. "Ratings") aufgeklärt, über den ich mich bis dahin offensichtlich sehr getäuscht habe, der mich einiges in völlig neuem Lichte erblicken lässt und wozu ich noch einige Fragen an das gewisslich bestens informierte Weinforumspublikum habe.

Zunächst: Zwar zähle ich mich seit über 20 Jahren zu den unverbesserlichen Bordeaux-Liebhabern. Allerdings halte ich es mit diesen Köstlichkeiten wie mit den von mir mindestens ebeso heiß geliebten deutschen Weißweinen: Ich habe meine mir vertrauten Erzeuger, von deren Können und Anspruch ich auf Grund ihrer Weine seit langem überzeugt bin und die diese zudem auch stets in einem Preisbereich anbieten, der für mit ganz normaler Arbeit ihr Geld verdienende Zeitgenossen vertretbar ist. Auch die Tropfen anderer, mir noch unbekannter Winzer probiere ich jederzeit ausgesprochen gerne, und wenn sie mir gefallen, kaufe ich mir ein paar Flaschen.

Der ganze Primeur-Rummel um Weine mit Preisen im hohen zwei- bis drei- oder gar vierstelligen Euro-Bereich berührt daher eigentlich überhaupt nicht - samt aller hierzu offensichtlich unentbehrlichen Rating-Orgien.

Bei den Jahrgängen 2009 und 2010 habe ich mich allerdings dazu entschlossen, die Gelegenheit zu nutzen, meinen Bordeaux-Bestand etwas umfangreicher zu diversifizieren. Und weil meine sonstige Vorgehensweise in Sachen Weinkaufentscheidung dafür dann wohl doch zu langwierig zu sein schien, habe ich mich - hilfesuchend - auf die mittlerweile ja reichlich verfügbaren Profi-Punkte-Bewertungen gestürzt.

Dabei ist mir allerdings aufgefallen, dass die Bewertungen der einzelnen Weine oft ganz erheblich unterschiedlich, gelegentlich sogar gegensätzlich ausfallen, und zwar nicht nur was die "nackten" Punkte angeht, sondern auch bis in die wörtlichen Beschreibungen hinein, samt den (bei Bordeaux ja sehr wichtigen) Empfehlungen/Voraussagen zur Trinkreife bzw. dem Entwicklungspotenzial. (Die unterschiedlichen Verkostungszeitpunkte sind bei dieser Kritik schon mit berücksichtigt!)

Nach nunmehr 3 Jahren intensiver Auseinandersetzung mit jenen Ratings bin ich zu dem Schluss gekommen, dass die meisten nur wenig mehr leisten, als was ich - bei aller gebotener Bescheidenheit - letztlich selbst auch kann, nämlich die aktuelle Qualität eines Weines zu beurteilen, wie ich ihn im Moment des Verkostens gerade vor mir im Glase habe.

Was mich aber - um nun zu der eingangs erwähnten AHA-Info zu kommen - außerordentlich überrascht hat, war die mir dahin nicht bekannte Tatsache, dass der Punkte-Papst Parker NICHT VERDECKT verkostet. Da bin ich ja wirklich platt! Denn jeder auch nur halbwegs psychologisch informierte Zeitgenosse müsste doch eigentlich wissen, dass es unter diesen Umständen selbst bei ernstestem und ehrlichstem Vorsatz völlig unmöglich ist, eine unbeeinflusste Wertung abzugeben!

Daher meine Frage an das Forum: Inwieweit ist denn bekannt, welche der allenthalben bekannten Verkoster bzw. Teams "offen" und welche "verdeckt" verkosten und bewerten? Für mich wäre das ein ganz entscheidendes Kriterium für das Rating der "Rater"...!
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harti

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Re: Rating der Ratings

BeitragDo 30. Apr 2015, 12:59

Hallo Jürgen,

die fleißigen Journalisten bewerten bei den Primeur-Verkostungen 500 Weine und mehr. Neal Martin bringt es in diesem Jahr auf sage und schreibe 700 Verkostungsnotizen.

Es ist für die Chateaux logistisch vollkommen unmöglich, den aus aller Welt anreisenden Profis für eventuelle Blindverkostungen Muster zur Verfügung zu stellen. Dementsprechend gibt es spezielle Sammel-Verkostungen von den Weingutsverbänden (z.B. UGC) und den Negociants. Teilweise (?) finden diese dann wohl verdeckt statt. (Ich weiß es nicht so genau, weil ich nicht zu diesem erlauchten Kreis gehöre).

Inwieweit sich die wichtigsten Weingüter an dieses Sammelverkostungen beteiligen oder wichtigen Journalisten spezielle Muster zur Verfügung stellen, ist mir nicht bekannt. Fürs "Fußvolk" ist es aber der Regelfall, dass die wichtigen Chateaux persönlich aufgesucht werden müssen. Dazu gehören (aus eigener Anschauung) Jancis Robinson, Rene Gabriel und Panos Kakaviatos. Eine Blindverkostung ist dann natürlich nicht möglich.

Ganz generell denke ich, dass ein Verkostungsprofi in der Lage sein muss und in der Regel auch ist, einen Wein ohne Ansehen von Rang und Namen zu beurteilen. Wer das nicht kann, hat seinen Beruf verfehlt. Zudem denke ich, dass Informationen über den Wein wichtig sind, um Aussagen über das Entwicklungspotenzial treffen zu können.

Grüße

Hartmut
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glycosid

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Re: Rating der Ratings

BeitragDo 30. Apr 2015, 16:35

Hallo Hartmut,

vielen Dank für deine ausführliche Antwort!

Wie gesagt, meine ausführlichere Beschäftigung mit dem Verkostungs- und Punktewesen ist eher neueren Datums. Vorläufiges Endergebnis: Geschmack, und damit letztlich auch die Kategorie der Weinqualität, ist wohl nicht in dem Maße objektivierbar, wie ich das in meiner Oberflächlichkeit zunächst gedacht, oder besser: gehofft hatte - und wie es vor allem die Verteilung von Punkten (bisweilen sogar im Nachkommastellenbereich...) ja auch irgendwie suggeriert. Und wenn ich die auch von dir skizzierten Umstände insbesondere der Primeurverkostungen bedenke, so neige ich mittlerweile fast dazu, den auf diese Weise zustande gekommenen Qualitätsurteilen/-verdikten keine allzugroße Bedeutung mehr beizumessen und mich dann eher auf die sogenannten "Nachverkostungen" zu konzentrieren.

harti hat geschrieben:Zudem denke ich, dass Informationen über den Wein wichtig sind, um Aussagen über das Entwicklungspotenzial treffen zu können.

Ganz genau so sehe ich das auch. Wenn nun aber zur Aktuell-im-Glase-Qualität am sinnvollsten der eigene Geschmacksapparat bemüht werden sollte und zur Vorhersage über Lagerfähigkeit/Entwicklungspotenzial genauere Kenntnisse der Erzeuger/des Weingutes vonnöten sind, dann gelange ich ja doch irgendwie an den Punkt, an dem ich vor den Profi-Punkten eigentlich auch schon war, oder übersehe ich da irgendwas?


harti hat geschrieben:Ganz generell denke ich, dass ein Verkostungsprofi in der Lage sein muss und in der Regel auch ist, einen Wein ohne Ansehen von Rang und Namen zu beurteilen. Wer das nicht kann, hat seinen Beruf verfehlt.

Da möchte ich (aus elementarpsychologischen Gründen) dann doch widersprechen. Ich halte es schlichtweg für unmöglich, dass ein Wein-Profi, der ja doch ein gerüttelt Maß tief liegender Genuss-Emotionen in diese Sache einbringt und auch für diesen Beruf auch unbedingt einbringen muss(!), in der Lage sein sollte, tatsächlich ohne jegliches Ansehen von Rang und Namen zu verkosten, wenn ihm Rang und Namen des gerade Verkosteten bekannt sind.
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pessac-léognan

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Re: Rating der Ratings

BeitragMo 31. Jan 2022, 17:15

Bordeaux-Kompass
z.B. https://bordeaux-kompass.de/ratings/bes ... 2015-2019/
Kennt jemand diese Seite? Es gibt ja mittlerweile viele solche Tools, wie etwas GWS usw.
Man kann dazu stehen, wie man will. Wenn man einen gewissen Zahlenfetischismus entwickelt hat (und niemand von uns Forumsteilnehmern ist hier wohl ganz immun...), ist es immerhin von allererstem Belang, zu wissen, ob und inwieweit wenigstens die Zahlenbasis dieser 'Zählmaschinen' etwas taugt.
Merkwürdigerweise ist vom Bordeaux-Kompass hier - m.W. - kaum oder gar nie die Rede - oder habe ich da einfach etwas verpasst?
Gefragt sind hier natürlich alle, die hin und wieder solche Seiten konsultieren oder sie hier auch schon verglichen haben, z.B. unser werter Kollege ledexter.
Gruss
Jean
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stollinger

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Re: Rating der Ratings

BeitragMo 31. Jan 2022, 17:40

glycosid hat geschrieben:Daher meine Frage an das Forum: Inwieweit ist denn bekannt, welche der allenthalben bekannten Verkoster bzw. Teams "offen" und welche "verdeckt" verkosten und bewerten? Für mich wäre das ein ganz entscheidendes Kriterium für das Rating der "Rater"...!

Ich meine, Bernard Burtschy verkostet weitestgehend blind.

https://www.bernardburtschy.com/

Hindert ihn natürlich nicht, seine Lieblinge zu haben (zB. d'Agassac).
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harti

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Re: Rating der Ratings

BeitragMo 31. Jan 2022, 18:39

pessac-léognan hat geschrieben:Bordeaux-Kompass
z.B. https://bordeaux-kompass.de/ratings/bes ... 2015-2019/
Kennt jemand diese Seite? Es gibt ja mittlerweile viele solche Tools, wie etwas GWS usw.
Man kann dazu stehen, wie man will. Wenn man einen gewissen Zahlenfetischismus entwickelt hat (und niemand von uns Forumsteilnehmern ist hier wohl ganz immun...), ist es immerhin von allererstem Belang, zu wissen, ob und inwieweit wenigstens die Zahlenbasis dieser 'Zählmaschinen' etwas taugt.
Merkwürdigerweise ist vom Bordeaux-Kompass hier - m.W. - kaum oder gar nie die Rede - oder habe ich da einfach etwas verpasst?
Gefragt sind hier natürlich alle, die hin und wieder solche Seiten konsultieren oder sie hier auch schon verglichen haben, z.B. unser werter Kollege ledexter.
Gruss
Jean

Hallo Jean,

der Kühler und Kühler Bordeaux-Kompass gehörte zu den ersten Publikationen, die eine Zusammenfassung verschiedener Bewertungen von Bordeaux-Weinen vorgenommen haben. Leider musste die Reihe irgendwann eingestellt werden. Hier findest Du eine ältere Ausgabe:

https://www.zvab.com/buch-suchen/titel/ ... r/kuehler/

Grüße

Hartmut
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Zweifel

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BeitragDi 1. Feb 2022, 09:29

;)
Zuletzt geändert von Zweifel am Di 1. Feb 2022, 09:34, insgesamt 3-mal geändert.
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Zweifel

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Re: Rating der Ratings

BeitragDi 1. Feb 2022, 09:29

harti hat geschrieben:
pessac-léognan hat geschrieben:Bordeaux-Kompass
z.B. https://bordeaux-kompass.de/ratings/bes ... 2015-2019/
Kennt jemand diese Seite? Es gibt ja mittlerweile viele solche Tools, wie etwas GWS usw.
Man kann dazu stehen, wie man will. Wenn man einen gewissen Zahlenfetischismus entwickelt hat (und niemand von uns Forumsteilnehmern ist hier wohl ganz immun...), ist es immerhin von allererstem Belang, zu wissen, ob und inwieweit wenigstens die Zahlenbasis dieser 'Zählmaschinen' etwas taugt.
Merkwürdigerweise ist vom Bordeaux-Kompass hier - m.W. - kaum oder gar nie die Rede - oder habe ich da einfach etwas verpasst?
Gefragt sind hier natürlich alle, die hin und wieder solche Seiten konsultieren oder sie hier auch schon verglichen haben, z.B. unser werter Kollege ledexter.
Gruss
Jean

Hallo Jean,

der Kühler und Kühler Bordeaux-Kompass gehörte zu den ersten Publikationen, die eine Zusammenfassung verschiedener Bewertungen von Bordeaux-Weinen vorgenommen haben. Leider musste die Reihe irgendwann eingestellt werden. Hier findest Du eine ältere Ausgabe:

https://www.zvab.com/buch-suchen/titel/ ... r/kuehler/

Grüße

Hartmut


Hallo Jean

Ich kenne die Seite seit einigen Monaten. Hier noch zu den von Hartmut erwähnten Büchern:

Kühler/Kühler (2001)
Kühler, Günter/Kühler, Peter: Bordeaux-Kompass für Rotweine 2002/03. 6. Aufl., München 2001 (Hallwag)

Die Auflagen 1 bis 4 sind in den Jahren 1993 bis 1999 in der Nomos Verlagsgesellschaft/Baden-Baden, die 5. Auflage im Jahre 2000 bei Hallwag erschienen.

Unter Know-How au der Website ist übrigens eine tolle Linksammlung für Apellationen und alles Wissenswerte rund um Bdx.

Bester Gruss
Hans-Rudolf
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small talk

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Re: Rating der Ratings

BeitragDi 1. Feb 2022, 13:13

Anhand von Punkten lässt sich eine Vorauswahl für die eigene Verkostung durchführen. Ich denke, dass ist das Einzige was noch Sinn macht.
Letztlich ist die Punktebewertung jedoch reine Illusion. Die objektive Einschätzung einer Weinqualität ist nicht möglich –durch Menschen. Es geht schließlich um Genus. Es ist immer nur eine subjektive Näherung, daher auch die auseinander klaffenden Bewertungen. Eine kluge Zusammenfassung verschiedener Punktebewertungen mag objektivieren, aber auch das bleibt eine Näherung. Braucht es eine objektive Bewertung von Wein?
Die Fähigkeit einen Wein zu schätzen ist nicht so häufig und grenzt den Weingenuss vom Konsum ab. Da mögen Punkte demjenigen helfen, der auf der Suche nach dieser Fähigkeit ist, ersetzen können sie den Lernprozess und Kenntnis vom Genuss nicht!
Beste Grüße aus Médoc
Stefan
Die Wahrheit liebt es, sich zu verstecken.
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pessac-léognan

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Re: Rating der Ratings

BeitragDi 1. Feb 2022, 13:53

Danke für eure Rückmeldungen, Hartmut, Hans-Rudolf und Stefan!
'Vorauswahl', wie Stefan schreibt, trifft es wohl ganz gut. Es geht darum, bei Weinen (vor allem teureren), die man selber nicht kennt, aufgrund von valablen Fremdeinschätzungen abzuschätzen, ob es sich wohl lohnen könnte, sich darauf einzulassen und bespw. eine Probeflasche zu ordern. Selbstverständlich: Punkte kann man nicht trinken, aber sie geben, in ihrer Höhe, in ihrer Streuung, in ihrer Anzahl, erste Hinweise, soweit die Zahlenbasis stimmt. Und Letzteres scheint beim Bordeaux-Kompass immerhin der Fall zu sein. Insofern: Kompass trifft es wohl nicht schlecht, wenn man dabei anschließend die eigene Fähigkeit zur Geschmacksnuancierung das letzte Wort haben lässt - ganz subjektiv, wie es Weingenuss schließlich ist...
Gruß
Jean

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