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"Traditioneller" und "Moderner" Bordeaux

Medoc und seine Appellationen, Bourg und Umgebung, Fronsac, Pomerol, Saint Emilion und Umgebung, Entre Deux Mers, Graves und Pessac-Leognan, Sauternes und Co.
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octopussy

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Re: "Traditioneller" und "Moderner" Bordeaux

BeitragMi 24. Sep 2014, 19:15

Hallo Carsten,

verstanden. Das macht es natürlich besonders spannend. Ich habe beim kurzen gugeln gefunden, dass Michel Rolland 1995 angefangen hat, für Léoville Poyferré zu arbeiten. Somit hast du recht, dass der 98er schon ein "Rolland Wein" ist. Da ist dem guten Michel für meinen Geschmack ein echtes Wunderwerk gelungen (widerlegt auch die These Michel Rolland = hohe Parker Punkte, Parker gibt Poyferré erst seit ca. 2003 richtig hohe Punkte).
Beste Grüße, Stephan
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Kle

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Re: "Traditioneller" und "Moderner" Bordeaux

BeitragMi 24. Sep 2014, 20:32

Hallo Stephan,

George und ich haben vorhin die D´Armailhacs nachprobiert, die sich vorteilhaft weiterentwickelt haben, noch etwas expressiver geworden sind. Mein Vorbehalt gegenüber dem 2005er bleibt aber. Nun ist er fort und bekam leider nicht mit, wie geradezu sensationell Cos 85 aus der Nacht hervorging. Eine reife, nicht aufdringlich gealterte Frucht. Pikant, vollmundig etwas pflaumig, erfrischende Säure und jede Menge Kaffee. Und schon war die Flasche endgültig leer.
Dann habe ich Gazin nachprobiert und konnte kaum fassen, wie auch er sich verbessert hat.

Gruß, Kle
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Tristram Shandy
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Einzelflaschenfreund

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Re: "Traditioneller" und "Moderner" Bordeaux

BeitragFr 26. Sep 2014, 23:39

Moin,

wirklich eine sehr schöne Probe, auch und gerade für mich als absoluten Bordeaux-Nicht-Experten. Tatsächlich fällt mir eine auch nur annähernd passende Alterseinschätzung auch so schwer wie vielleicht für keine andere Art von Wein.

Flight 1:
1985 Château Léoville-Poyferré und
1985 Château Cos d'Estournel
Poyferré elegant, sublim, etwas Fleisch bzw. Eisen in der Nase. Im Mund zunächst etwas dünn wirkend, viel Säure, vorn zunächst leichter Muff, der aber verfliegt. Sich nur wenige Minuten auf den Wein einlassend, wird das vermeintlich Dünne zu zarter, aber bestimmter Struktur. Gute Länge, 91-92 Pkte.
Cos mit würzigerer, „dunklerer“ Nase. Im Mund mehr Säure, dafür mehr Alkoholanmutung, Kirschnoten, die etwas stumpf rüberkommen. 85-86 Pkte.

Flight 2:
1990 Château Figeac
In der Nase recht fest wirkend, Fleischbrühe. Im Mund Wucht, Dichte, viel Körper. Sehr auf der „warmen“ Seite (im Gegensatz zur eher kühlen Anmutung des Poyferré) im Sinne von leicht vordergründiger Kraft, was ihn für die Kategorie „groß“ ein paar Eleganzpunkte kostet. Wäre für mich jetzt nicht sofort als Bdx. erkennbar gewesen, der hätte auch einige Kilometer weiter südlich gewachsen sein können. So für sich aber sehr stark, 93 Pkte.

Flight 3:
1995 Château d'Armailhac und
2005 Château d'Armailhac
Der 95er riecht nach dunkler Fleischbrühe, dazu ein bisschen Minze. Im Mund kühl, elegant, etwas stumpf-adstringierend. 92 Pkte.
Der 05er in der Nase etwas dropsig-laktisch. Im Mund leicht bitter und insgesamt sehr „eckig“, vermutlich in keiner günstigen Phase erwischt. Vor dreieinhalb Jahren an selber Stelle gefiel er mir noch deutlich besser – gut, dass ich diesen Vergleich machen konnte, was viele meiner Momentaufnahmen stark relativiert. Für diesen Abend nur 86 Pkte; ob ihn das Potenzial in ähnliche Höhe und Richtung wie den 95er bringt, kann ich nicht einschätzen.

Flight 4:
1997 Château Léoville Las Cases
1998 Château Langoa Barton
1998 Château Léoville-Poyferré
In einem Wort: erstaunlich.
Las Cases mit etwas süßlich schwerer Rumtopf-Nase. Im Mund dann herber als von der Nase vermutet. Die Süße ist aber auch noch da; insgesamt wirkt die Stilistik eher international-beliebig. Außerdem recht kurz. 84 Pkte.
Langoa wieder mit einer Fleischbrühen-Nase. Im Mund noch recht starke Tannine, etwas lakritzig. Ganz leicht stumpf. Hier bin ich mit 90 Punkten evtl. etwas zu geizig. Dürfte noch Potenzial haben.
Poyferré in der Nase schon signalisierend, dass hier ein nobler Auftritt naht. Sehr fein und differenziert, nichts Aufdringliches. Löst das dann im Mund voll ein, kühl, saftig, funkelnd. Der facettenreichste Wein des Abends, voll auf dem Punkt. 95 Pkte.

Flight 5:
2009 Château Saint Pierre und
2009 Château Le Bon Pasteur
Der Saint-Pierre hinterlässt mich völlig ratlos. In der Nase Vanille, Süße, Kitsch. Im Mund dann ein furchtbares Duo von Süße und Bitterkeit. Kein Frucht, kein Extrakt, keine Säure. Ich habe keine Ahnung, ob da Potenzial ist, in dieser Form für mich nicht mehr als 79 Pkte.
Le Bon Pasteur riecht etwas stumpf. Im Mund jung und unentwickelt, macht eine schön pelzige Zunge. Gute Strukturanlagen aber schon erkennbar. Für den Tagesgenuss 85 Pkte., aber hier traue ich mich, ein gute Potenzial zu prophezeien.

Nochmals vielen Dank an Kle und George!

Beste Grüße
Guido
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MQuentel

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Re: "Traditioneller" und "Moderner" Bordeaux

BeitragFr 26. Sep 2014, 23:43

Moin,

die Weinprobe hat mich veranlasst, in die Geschichte einiger Weingüter etwas intensiver einzusteigen, dazu bald mehr. Zum eigentlichen Thema Klassisch vs. Modern habe ich bei Rene Gabriel etwas ganz Spannendes gefunden. In seiner letzten Auflage des Buchs Bordeaux Total unterscheidet er zwischen alten und neuem Testament. Sein altes Boredeaux Testament langt von 1784 bis 1981; er schreibt hierzu folgendes:

"Nicht alles ist zwar Gold, was glänzt, aber mit ein bisschen Ehrfurcht kann man fast jeder uralten Flasche mehr oder we­niger Freude abgewinnen. Man muss sich zuweilen auch vor­stellen, unter welchen Umständen und Zufällen solche Weine damals entstanden sind. Das Qualitätsmanagement wies zu diesen Zeiten erhebliche Lücken auf. Eine derartig intensive Rebgartenbearbeitung wie diese heute veranstaltet wird, kannte man schlichtweg nicht. Die Gerbstoffe reiften irgend­ wie oder eben auch nicht. Der Ertrag war nur zufällig niedrig und dies auch nur, weil es der liebe Gott so wollte. Sogar bei den allerbesten Crus war manuelle Ertragslimitierung nur in wenigen Fällen das deklarierte Ziel der Besitzer. Viel Geld verdienten jene, die viel Wein zu verkaufen hatten. Die Qualität bedeutete beim Festlegen des Preises ein noch relativ unbekannter Faktor. Die vermoderte Klassements-Hierarchie bestimmte meistgehend den erzielten Obolus und das Datum der Lese die Nachbarn. Fingen diese an die Trauben zu pflücken, begann man halt ebenfalls. Je schneller sich die Ware im Keller befand, desto geringer war das Risikodurch Regen verfaulte Trauben zu riskieren. Der Begriff «physiologische Reife» der einzelnen Traube erfand man erst in den letzten zwanzig Jahren.
Was im Keller in früheren Zeiten passierte, unterlag zwar si­ cherlich einer gewissen Routine und jeder maitre de chais (Kellermeister auf Französisch) wusste mit seinen Handlangern routinemassig was zu tun war, um den gärenden Saft nach zwei weiteren Jahren in die Flasche zu bringen. Doch auch hier gab es wesentliche Qualitätslücken und Unsicherheitsfaktoren, Die Entrappungsmaschinen glichen den heutigen Häckslern. Brutal wurden die Stiele von den Traubenbeeren getrennt, dabei die Kerne verletzt, welche im späteren Wein für aggressive Bitterstoffe sorgten. Zu große Cuviers ließen keine parzellenweise, individuelle Vergärung zu. Gärtemperaturkontrolle? Ein Fremdwort, man behalf sich mit mühsamen, ineffizienten, mit Leitungswasser berieselten Kühlschlangensystemen. So verwundert es auch nicht, dass selbst bei Spitzenweingütern wie z.B. Chateau Petrus erst im Jahre 1988 ein adäquates Kühlsystem für alle Betongärtanks, installiert wurde. Neue Barriquen, die einerseits ein Garant für sauberen Ausbau und noch wichtiger für zusätzliche. lebenswichtige Gerbstoffe gesorgt hätten, waren nur wenigen, besonders renommierten Chateaus vorbehalten. Vielmehr erinnern sich die älteren Bordeauxkenner, dass die Fässer nicht selten viel mehr als zehn Jahre auf dem Buckel hatten und manchmal gar von miefendem Moos umgarnt waren. Assemblagen konnten in der Regel nie für die gesamte Ernte gemacht werden. Man leerte ein paar Fässer in einen großen Gärbehälter. Ein paar Tage lang wurden diese zufällig zusammengemixten Mengen in Flaschen gefüllt. Dann richtete man wieder eine neue Charge an. Jean-Michel Cazes hat mir einmal berichtet, dass das Abfüllen von einer Ernte Lynch-Bages manchmal mehrere Monate lang dauerte. Dieser Urnstand erklärt dann auch stellvertretend für praktisch alle anderen Bordeaux-Chateaus, warum alte Weine so unterschiedliche Flaschenqualitäten aufweisen können. Und nicht zu vergessen: Zweitweine waren gänzlich unbekannt. Einzig Chateau Latour deklassierte einen gewissen Teil als Les Forts de Latour. Somit füllte man praktisch alles, was in den Chateaus produziert wurde als «GrandVin» ab.
Das leserische Wühlen im «Alten Testament» bietet einen breit gefächerten Fundus, Von herben Enttäuschungen bis hin zu unvergesslichen Jahrhundertweinen; so z.B. die Magnum­ Flasche Chateau Lafite-Rothschild 1870,die mich zur längstes; Degustationsnotiz meines Weinlebens beflügelte." (vgl. Rene Gabriel, Bordeaux Total, S. 552, WeinWisser Verlag)

Etwaige kleine Rechtschreibfehler bitte ich zu entschuldigen, habe den Text als pdf gescannt und dann in Word umgewandelt, damit ich nicht alles abschreiben muss.
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drmamue

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Re: "Traditioneller" und "Moderner" Bordeaux

BeitragSa 27. Sep 2014, 18:06

Hallo zusammen,

vielen Dank an George und Kle für eine sehr schöne und ungemein aufschlussreiche Probe.

Flight 1:
1) 1985 Château Léoville-Poyferré
2) 1985 Château Cos d'Estournel
1) changiert in der sehr attraktiven Nase zwischen Fleischbrühe und Kirsche. Im Mund herb und zunächst mit leichter Bitterer, dann aber kommen saftige, beerige Noten dazu und der Wein entwickelt sich zu einer feinen Struktur mit guter Länge. 92/100
2) mit etwas wilder Nase; blutig-fleischig, Paprika, rote Pflaume. Das Wilde setzt sich auch am Gaumen fort, herbe Beerennoten gepaart zu Anfang mit Säure, dann etwas stumpfen Tanninen, kürzer als 1). 89/100

Flight 2:
3) 1990 Château Figeac
In der Nase Kräuter, etwas Bittermandel. Am Gaumen dunkle Frucht, Kaffee, Brombeere; üppig und kraftvoll, nicht sehr elegant. Tannine für mich etwas zu pelzig. 89/100

Flight 3:
4) 1995 Château d'Armailhac
5) 2005 Château d'Armailhac
4) In der Nase vel Frucht (Kirsche, Cassis), dazu kräuterig-minzige Noten; am Gaumen frisch, elegant herbfruchtig und lang mit leichter (aber schöner) Bitterer. Sehr schöner Wein. 93/100
5) In der Nase dunkle Schokolade, heiße Milch und dunkle Fruchtnoten; am Gaumen kräuterig, etwas adstringierend-pelzig, aber kraftvoll ; mit etwas Luft dunkle Beeren (Brombeere). Etwas ruppig, zeigt aber m.E. im Moment nicht alles, was er kann. Ob er je so elegant werden wird wie der 95er, ist fraglich. 92/100
In James Bond ausgedrückt, war der 95er Pierce Brosnan, der 05er eher Daniel Craig. Ist aber kein Problem, ich mag beide.

Flight 4:
6) 1997 Château Léoville Las Cases
7) 1998 Château Langoa Barton
8) 1998 Château Léoville-Poyferré
6) In der Nase Pflaume, Zimt, Rote Grütze. Im Mund rotfruchtig, Lakritz, alkohol. Süße. Durchaus gut, aber austauschbar und recht eindimensional. 87/100
7) In der Nase eher dezent; Kirsche, etwas Brühe. Am Gaumen etwas pelzig, Rotfrucht, sehr viel feiner und tiefer als sein Vorgänger. Hat noch Potential. 92/100
8) In der Nase rote Frucht, etwas Zimt, sehr differenziert und fein; am Gaumen die reine Freude: feine Säure, rote Beeren, hochelegant, fein, lang und tief. Voll auf den Punkt. 96/100

Flight 5:
9) 2009 Château Saint Pierre
10) 2009 Château Le Bon Pasteur
9) Guido schreibt: "Der Saint-Pierre hinterlässt mich völlig ratlos." Dito. Die Nase blutig-vanillig, am Gaumen Tannin, Tannin, Tannin, etwas Säure, etwas rote Frucht, bitter-adstringierend. Keine Ahnung, was daraus mal werden soll. Die Hoffnung stirbt aber bekanntlich zuletzt. 84/100
10) In der Nase eine Mischung aus Brombeere und Benzin, dazu etwas Rumtopf. Am Gaumen mehr Struktur als beim Vorgänger, bricht ziemlich abrupt ab. Kann aber was werden. 86/100

Da die Heimat rief, gab es für mich keinen Gazin mehr.

Viele Grüße und nochmals vielen Dank an die Gastgeber!
Markus
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Kle

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Re: "Traditioneller" und "Moderner" Bordeaux

BeitragSo 28. Sep 2014, 15:23

Einzelflaschenfreund hat geschrieben:Poyferré elegant, sublim, etwas Fleisch bzw. Eisen in der Nase. Im Mund zunächst etwas dünn wirkend, viel Säure, vorn zunächst leichter Muff, der aber verfliegt. Sich nur wenige Minuten auf den Wein einlassend, wird das vermeintlich Dünne zu zarter, aber bestimmter Struktur. Gute Länge, 91-92 Pkte.

Genauso empfand auch ich Château Léoville-Poyferré 1985. Ich habe mir keine Notizen gemacht und genieße eure umso mehr. Unabhängig von Punktebewertungen berührten er und D´Armailhac 95 mich am meisten – womöglich wegen Eigenheiten, die zum Titel dieses threads passen.

Michael, vielleicht ist es ähnlich wie mit Architektur vergangener Epochen...Minoische Siedlungen, Schlösser, alte Bürgerhäuser. Außergewöhnlich anzusehen, erhebender als vieles heute, aber für moderne Ansprüche schlecht bewohnbar. So widerspricht die Weinproduktion früherer Zeiten dem modernen Qualitätsgedanken, hat aber unter Umständen etwas verloren, wofür man bei der Architektur den Denkmalschutz eingeführt hat.
Dass moderne Vinifikation die Qualität verbessert und kontrollierbarer gemacht hat, ist die eine Seite. Hiermit einhergehende geschmackliche Veränderungen wird man, vielleicht ein wenig wehmütig, mit dem Wort vom „Zug der Zeit“ hinnehmen. Die außerdem bewussten stilistischen Beeinflussungen des Kellermeisters, um mehr Kunden glücklich zu machen, gab es in dieser oder jener Form sicher ebenso seit ewigen Zeiten. Ich denke, wir leben in einem ewigen Wechsel der Mode, nur manchmal fällt es besonders auf oder schmerzt.
Neben Chaptalisierung, Mostkonzentration, Aromatisierung und weiteren neueren Lecker-Verfahren finde ich die Rolland-Kontroversen interessant, die bei uns aufblitzten. So die Philosophie der Ertragsreduktion, Vollreife, späten Lese und geringen Säure gegen die Argumentation, wenig Säure würde die Struktur und Haltbarkeit der Weine gefährden und übertriebene Ertragsreduktion Weine zu mächtig machen. Auch würde sie das Verhältnis von Traubensaft zu Traubenhaut zu Ungunsten der Haut und ihrer Inhaltstoffe wie der Tannine verändern.
Die privat verfügbaren Flaschen sind wie Tropfen aus dem Bordeaux-Ozean und von ihnen lässt sich wiederum nur ein Minimum an einem Abend verkosten. Wenn ein Indiz für elementare stilistische Veränderungen auftaucht, die unsere Genusswelt verschieben, ist dies ein denkwürdiger Moment, jedoch kein Beweis für irgendwas. Ich fürchte aber, dass ein mit so anmutiger Strenge sich entfaltender Wein wie Poyferré 85 ein Kind seiner Zeit nicht nur aufgrund von Jahrgang und Reifedauer ist. Auch bei D´Armailhac 95 bin ich skeptisch. Die ernste, besonnene Stuktur des Weines wurde ja am Tisch u.a. als zwar wunderbar, aber etwas eindimensional kommentiert. Ich fand es gerade schön, dass der Sänger nicht auch noch einen Tanzschritt machen wollte. Akzeptierte ich, dass eben nur Gesang zu hören ist, entwickelte sich auf dieser einen Ebene eine ganze Menge.
Die letzten beiden Weine schienen hingegen auf allen möglichen Hochzeiten mit allem möglichen Eindruck machen zu wollen. St. Pierre wirklich skurril, ein wie besoffener Wein, aber nach meiner Meinung nicht mangelhaft. Er schmeckte nicht, aber dies kann sich ändern. Als wir ihn zuvor am Nachmittag probierten, war der Eindruck völlig anders. Karg und doch voll, komprimiert. Le Bon Pasteur wirkte zu jenem Zeitpunkt opulent und geradezu trinkreif. Natürlich war uns klar, dass wir beide Weine eigentlich nicht hätten öffnen dürfen. Aber die Opfer gehörten zur "Arbeit am Mythos" Bordeaux.

Gruß, Kle
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Tristram Shandy
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Desmirail

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Re: "Traditioneller" und "Moderner" Bordeaux

BeitragMo 29. Sep 2014, 10:51

MQuentel hat geschrieben:Moin, ...

... damit ich nicht alles abschreiben muss.


So ähnlich sehe ich das auch. Man sollte diesen Aspekt meiner Meinung nach nicht vernachlässigen.
Guter Hinweis ;)
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octopussy

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Re: "Traditioneller" und "Moderner" Bordeaux

BeitragMo 29. Sep 2014, 18:38

MQuentel hat geschrieben:Zum eigentlichen Thema Klassisch vs. Modern habe ich bei Rene Gabriel etwas ganz Spannendes gefunden. In seiner letzten Auflage des Buchs Bordeaux Total unterscheidet er zwischen alten und neuem Testament. Sein altes Boredeaux Testament langt von 1784 bis 1981;

Moin Michael,

danke für den Text. Ich denke, Rene Gabriel hat einen Punkt, was die Verbesserung aller möglichen Aspekte der Weinbereitung im Weinberg und im Keller angeht. Aus dem Interview "Le Jugement de Bordeaux" aus der RVF, das ich euch zugesandt habe, geht aber auch hervor, dass die Önologen die ihnen plötzlich zur Verfügung stehenden technischen Hilfsmittel und Verfahren exzessiv oder auch falsch einsetzten. Die vier Interviewees wurden gefragt, was sie am meisten bereuen. Darauf antworten sie wie folgt (abgekürzt und nur grob übersetzt):

Denis Dubourdieu: "Im Nachhineien bereue ich, dass ich im jungen Alter zu viel eingegriffen habe. Ich habe erst in den letzten Jahren gelernt, dass es ausreicht, so wenig wie möglich zu machen. [...] Unsere Generation wollte alles neu entdecken, aber alles war schon gesagt und geschrieben worden. [...] Es reicht aus, noch mal genau die Schriften von Emile Peynaud zu lesen, um zu verstehen, dass man viel Zeit verloren hat und Dummheiten hätte vermeiden können. In Bezug auf die Extraktion und den Einsatz von Presswein ist alles perfekt erklärt in dem Buch "Le Vin et les jours" vo 1988. In diesem Buch erklärt Peynaud klar und deutlich, dass man während der Mazération nur wenig extrahieren darf und so sehr konzentrierten Presswein erhält, den man später wieder hinzufügen kann, um ein balanciertes Ergebnis zu bekommen. Lange Zeit dachte ich, dass man es gerade anders herum machen muss."

Michel Rolland: "Wir haben die Extraktion teils etwas zu weit getrieben."

Stéphane Derenoncourt: "Das gilt für mich auch. Ich habe in den 90er Jahren angefangen und zu stark extrahierte Weine erzeugt. Das lag an Eitelkeit oder daran, dass ich zeigen wollte, dass ich der Größte bin. Später beim Nachprobieren fiel mir auf, dass diese Weine mir gar nicht schmeckten, dass sie austrocknend waren. Dann habe ich meine Technik geändert."

Eric Boissenot: "Ich habe immer anders gearbeitet und sanfte Extraktion und das Verwenden von Presswein bevorzugt, so wie mein Vater, Mitarbeiter von Peynaud über 20 Jahre hinweg, es immer gemacht hat. In den 2000er Jahren wurden wir dafür kritisiert, dass unsere Weine zu wässrig und leicht seien."

An diesen Aussagen kann man m.E. vor allem eins erkennen: Erfahrung ist alles. Schon Eric Boissenots Vater Jacques Boissenot hat nahezu alle renommierten Crus beraten und sein Sohn tritt jetzt in seine Fußstapfen. Was Boissenots Vater von Peynaud gelernt hat, kann er anwenden. Andere wie Derenoncourt oder Dubourdieu mussten das erst durch Ausprobieren lernen. Hier ist ein schöner Artikel über Vater und Sohn Boissenot: http://www.jancisrobinson.com/articles/ ... ingredient

Auch interessant, wie Denis Dubourdieu begründet, warum seine Kunden ihn engagieren: "Man möchte meine Beratung, um Weinfehler zu vermeiden. Meine Kunden wollen nicht, dass ich ihren Stil beeinflusse, sondern nur, dass ihre Weine frei von Fehlern sind."
Beste Grüße, Stephan
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Desmirail

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Re: "Traditioneller" und "Moderner" Bordeaux

BeitragMo 29. Sep 2014, 19:36

Hallo Stephan,

auch diese Worte finde ich sehr treffend. Sehr guter Beitrag. :!:
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Weinbertl

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Re: "Traditioneller" und "Moderner" Bordeaux

BeitragSo 18. Jan 2015, 15:47

octopussy hat geschrieben:1997 Château Léoville Las Cases
1998 Château Langoa Barton
1998 Château Léoville-Poyferré


Der Las Cases hatte es auch schwer, denn mit dem Langoa und dem Poyferré hatten wir zwei weitere Traumweine in den Gläsern. Der Poyferré lud wirklich zum Träumen ein, ich behielt ihn mir ziemlich lange im Glas, weil ich diesen wunderschönen Wein gar nicht zu Ende trinken wollte. Pure Schönheit, so lässt sich der Wein wohl am besten beschreiben. Perfekt balanciert, samtig, würzig, nuanciert, der hatte - wie auch schon der 85er Poyferré - nahezu alles, was ich mir von einem schönen Bordeaux erhoffe. Der Langoa war ziemlich anders, aber nur ganz wenig unter dem Poyferré im Niveau, etwas dunkelfruchtiger, vielleicht etwas jünger wirkend, knackiger, aber auch etwas weniger sinnlich. Auch beim Langoa blieben keine Wünsche offen.


dieser Post war für mich Anlaß mir eine Flasche 98er Leoville-Poyferre zu besorgen um zu sehen, ob mir dieser Wein die selbe Freude bereiten würde. Ich habe die Flasche in ebay geschossen und gestern musste sie dran glauben.
Wenn ich die obenstehenden Ausführungen von Stephan lese, frage ich mich, ob ich tatsächlich den selben Wein im Glas hatte. Leider kann ich rein gar nichts davon bestätigen. Der Wein hatte bestenfalls in der Nase etwa die Klasse eines guten Cru Bourgeois, am Gaumen vollkommen belanglos. Wenig bis keine Struktur, keine Tiefe, keine Komplexität, nur gewöhnlich gestrickt. Ich habe den Wein über 4-5 Stunden beobachtet, von Anfang bis Ende kein Lichblick. Der Wein war aber offen und veränderte sich an der Luft kaum.

Nachdem ich nicht an Stephans Verkostungsfähigkeit zweifle und eine Fälschung eher ausschließe, bleiben nur noch zwei Möglichkeiten: schlechte Lagerung oder ganz üble Flaschenvarianzen.
Eine sehr schlechte Lagerung würde ich eher nicht annehmen, da sich der Kork in einem tadellosem Zustand befand, der Füllstand normal war und der Wein selbst einen einwandfreien Eindruck machte. Ich glaube daher eher an eine ganz schlechte Flasche. Wirklich schade, da ich mich sehr auf diesen Wein gefreut hatte.
Hat jemand ähnliches mit diesem Wein erlebt?
Grüße
Robert
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