vanvelsen hat geschrieben:mthShax hat geschrieben: Ich bin immer wieder erstaunt, wie sensationell die Weine ab Fass oder in der Probe schon schmecken, man sie aber dennoch erst 6 Jahre später trinken soll. Mir ist schon klar, dass sich Weine in ihrer Reifezeit z. T. sehr deutlich verändern, aber manchmal frage ich mich, was laut den Beschreibungen noch besser werden soll.
Meine Trinkffenster versuche ich so festzulegen, wie ich einen Wein En Primeur resp. bei Arrivage degustativ wahrnehme. Es geht hier im Kern darum, die Menge und die Qualität der Tannine einzuschätzen, das Vorhandensein einer guten Säurestruktur zu prüfen und die Blance zwischen Alkohol, Frucht und Tannin/Säurestruktur zu bewerten. Viel gutes Tannin, Säurestruktur und Balance sind dann ein Garant für eine schöne und lange Reifephase.
Fakt ist natürlich auch: SHL hat enorm feine Tannine, die es erlauben, den Wein grundsätzlich schon bei Arrivage problemlos "trinken zu können". Doch zwischen "Trinken können" und "trinken möchten" gibt es für mich einen Unterschied. Aktuell ist es z.B. der 2012er (qualitativ noch nicht auf dem gleichen Niveau wie 2015 bis 2020), der sich so präsentiert, wie ich einen Wein trinken möchte, nämlich am "Anfang eines idealen Trinkfensters".
Schwieriger wird es mit der Schätzung für das "Ende des idealen Trinkfensters" – hier kommt die Glaskugel schon eher mit ins Spiel, und – das ist auch nicht zu unterschätzen – die ganz subjektive Wahrnehmung, wann ein Wein noch trinkbar ist. Ich kenne viele ältere Weinnasen, die sich mit grosser Freude einem 50 oder 60+ jährigen Wein hingeben. Es gibt aber genausoviele Weinliebhaberinnen und Weinliebhaber, die gerade im fortgeschrittenen Alter die "Lust an der Frucht" wiederentdecken.
Meine Schätzung, in diesem Fall 2027-2050 für SHL 2018, basiert auf der doch mehrfach geprüften Erfahrung, dass man heutige Bordeaux-Weine bereits rasch "trinken möchte" und dass der Wein aufgrund seiner grossen Qualität (viel sehr hochwertiges Tannin, top Säure, sensationelle Balance zwischen Frucht und Struktur etc.) ein mindestens 20jähriges "optimales Trinkfenster" vor sich hat.
Setzen wir nun diese Aussage in den Kontext eines älteren, bekanntlich sehr guten und wie 2018 ebenfalls sonnenverwöhnten Jahrgangs und nehmen einen sehr guten Wein aus der selben Appellation (ich nehme bewusst nicht SHL, da dieser Wein damals noch nicht auf dem Niveau von heute ist): Château Haut-Bailly 1990. Dieser Wein bietet aktuell sensationellen Trinksgenuss, ist meines Erachtens aber "am Ende seines optimalen Trinkfensters" angelangt, was nicht heisst, dass er in 10 Jahren nicht mehr trinkbar ist, aber ich bin überrzeugt, dass sich dieser Wein nicht mehr verbessern wird, sondern über die Jahre nun tendenziell an Charme verlieren dürfte und seine Fähigkeit, grosse Trinkfreunde zu garantieren, einbüssen wird.
Ich habe bei diesem Beispiel-Wein divese Refernzpunkte. Ich genoss meine ersten Haut-Bailly des Jahrgangs 1990 ums Jahr 2000 herum. Damals war der Wein noch jugendlich, etwas sperrig, aber trinkbar. Er fand um 2005 herum sein aus meiner Sicht "optimales Trinkfenster", welches er nun bis eben zum heutigen Tage resp. Jahr halten konnte. Kurz: Haut-Bailly 1990 öffnete ca. 15 Jahre nach der Ernte sein rund 20jähriges, optimales Trinkfenster.
Wohl wissend, dass sich die Vinifikation deutlich verändert hat, und die Weine heutzutage früher zugänglich sind, bin ich darum überzeugt, dass mein angegebenes Trinkfenster für SHL 2018 richtig gewählt ist. Wer es nicht glauben möchte, darf gerne in nicht ganz unfreudvollen Praxis-Tests das Gegenteil beweisen.
Lieber Gruss,
Adrian
Lieber Adrian,
merci für Deine ausführliche, aufschlussreiche und zugleich unterhaltsame Antwort ohne "Allüren". Daumen hoch